1. Wo, zum Teufel, ist die Milla
Wenn Paketboten und Haustiere zu Geschäftspartnern werden

Gestern Nachmittag sah ich zum ersten Mal den jungen Mann, der mir seit Monaten die Pakete seines Internetversands in den Hauseingang stellt. Als ich die Haustür öffnete, um meine Katze ins Freie zu lassen, stand er unvermittelt vor mir - wie das Kaninchen vor der Schlange – völlig erstarrt und mit schreckgeweiteten Augen. Nach einer Sekunde fasste er sich wieder und machte sich, ohne ein Wort zu verlieren, aus dem Staub. Das Gleiche ist mir über viele Jahre hinweg mehrmals mit meinem Postboten Hennes passiert. Doch der zuckte nicht zusammen, sondern schmetterte mir jedes Mal ein rheinisch-fröhliches »Un Doc – wie isset?« entgegen. An Tagen wie diesem, so kurz vor Weihnachten, hielt er dabei auch schon mal unmerklich seine Hand für ein ordentliches Trinkgeld auf.

Ich wollte dem Paketboten noch hinterherrufen: »Fürchte dich nicht! Es ist doch Weihnachten, und ich möchte Dir ein Trinkgeld geben!« Aber da war er schon in seinem zerbeulten und knatternden Lieferwagen verschwunden. 

Vielleicht hatte er ja Schuldgefühle und ich hätte ihn gerne beruhigt. »Du hast im Sinne Deines Auftraggebers alles richtig gemacht. Deinen Transporter hast Du so geparkt, dass ich ihn nicht bemerken konnte. Du bist meine Auffahrt in Weltrekordzeit hochgelaufen. Du hast nicht etwa aus Versehen geklingelt und auch sonst keinen unnötigen Lärm gemacht. Du hast einfach Pech gehabt, dass ich zufällig hinter meiner Haustür stand.«

Vielleicht dachte er jetzt in seinem klapprigen Tuck-Tuck darüber nach, ob er das nächste Paket für dieses Haus einfach auf das Garagendach werfen oder besser noch – mitten in der Nacht liefern sollte. Mir wurde klar, dass ich hier der hilflosen Beute am Ende der Nahrungskette eines alles verschlingenden Logistik-Giganten begegnet war. Ich öffnete die Website des Internetversandes und suchte nach dem Warnhinweis »Bitte unsere Außendienstmitarbeiter nicht ansprechen oder füttern!«

Immerhin verzichtete dieses Unternehmen auf den bei anderen Lieferanten üblichen Quittungsaktionismus. Seit einiger Zeit forderte mich nämlich ein weiterer Paketbote regelmäßig auf, zum Beweis meiner Existenz meine Unterschrift mit dem Finger auf sein Touchscreen zu malen. Ich zog danach jedes Mal eine Zickzacklinie, die eher der Schleifspur einer betrunkenen Blindschleiche als meiner Unterschrift glich. In einem wunderbaren, künstlerischen Moment gelang mir dann die Darstellung des EKG’s eines mörderischen Herzinfarktes sowie einer daran anschließenden Nulllinie. Der Bote speicherte selbst dieses sichere Todeszeichen völlig ungerührt als mein Autogramm ab. Eigentlich halte ich diese Form der Quittierung für etwa so verlässlich wie die Zeugenaussage eines dementen Pavians in einem Strafprozess – aber sie entspricht gültigem EU-Recht ist somit von allerhöchster Stelle gedeckt. 

Auf jeden Fall freue ich mich schon darauf, bei nächster Gelegenheit mit dem »Haus vom Nikolaus« oder einem »Galgenmännchen« unterschreiben.  

Vor einigen Wochen überraschte mich dann ein dritter Zusteller zum ersten Mal mit einer noch viel innovativeren Identifizierungsmethode. Ich sollte mit meinem Kuli auf der Oberfläche seiner Lieferung unterschreiben. Also ritzte ich mit großer Akribie eine Reihe germanischer Runen in die Pappe. Am Ende hätte man in dem Schriftzug anstelle meines Namens »Wolfgang Jachtmann« genauso gut »Wotan Jagdhahn« Oder »Wodka Jahrmarkt« lesen können. Auch diesem Kollegen war meine wahre Identität offenbar völlig wurscht. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und fotografierte seelenruhig Die Risse und Löcher, die mein Schreibgerät in dem Karton hinterlassen hatte. 

Während meiner Unterzeichnung hatte sich unsere Hauskatze Milla an unseren Beinen vorbei durch die offene Haustür in unserem Vorgarten geschlichen. 

Mit Blick auf das unschuldige Tier versuchte ich einen böswilligen Scherz. 

»Diese Unterschrift, kann doch nur Saruman, der Weise lesen. Was halten sie davon, wenn sie sich einfach ein Tierchip-Lesegerät besorgen und zum Beweis Ihrer Lieferung beim nächsten Mal meine Katze scannen? Das macht genauso viel Sinn und erspart mir große Mühe.« 

Der Bote lächelte nur und antwortete gelassen: »Das wäre für mich und meine Firma auch kein Problem.« Offensichtlich probierte er es mit einer Retourkutsche. «Meine Kollegen und ich haben schon lange solche Chipscanner für Haustiere dabei. Nur Schlangen und Vogelspinnen scanne ich persönlich nicht, weil ich Angst vor ihnen habe.«

Ich traute meinen Ohren nicht und fragte ungläubig nach.

»Wollen Sie mir ernsthaft erzählen, dass es Kunden gibt, die ihr Kaninchen oder Meerschweinchen den Empfang Ihrer Lieferung quittieren lassen?«

»Aber klar doch. Sie haben sogar einen Nachbarn, der lässt regelmäßig seinen Zwergpudel scannen. Ich darf Ihnen leider nicht sagen, wer das ist.«

Mir schwoll der Kamm. »Was würde denn passieren, wenn einer Ihrer Kunden meine Katze Milla unter Ihren Scanner halten und später behaupten würde, er hätte die bestellte Ware nicht erhalten?«

»Das habe ich zwar noch nicht erlebt, aber dann würde mein Konzern ihm sicher mitteilen, dass ich die Lieferung ordnungsgemäß an die Katze Milla übergeben hätte. Wie sich dieser Kunde und Ihre Katze dann einigen, ist uns egal. War’s das? Ich muss nämlich jetzt weiter.«

Während der Alles-Scanner leise pfeifend unser Grundstück verließ, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich soeben mächtig auf die Schippe genommen worden war. 

Beim Abendessen erzählte ich meiner Frau von dem Vorfall. Noch während ich mich darüber lustig machte, entgleisten ihr die Gesichtszüge. Mit bleicher Nase und gepresster Stimme zischte sie: »Wo, zum Teufel, ist die Milla?«

Völlig erschrocken erwiderte ich: »Ich habe sie heute Nachmittag in den Garten gelassen - Warum fragst du?« 

In Sachen Besonnenheit war mir meine Dea stets um Längen voraus. Ihre folgende Einschätzung der Lage ließ keinen Zweifel daran, dass unsere unschuldige kleine Katze in großer Gefahr schwebte. »Denk‘ doch mal an Hoppelmanns!«, fuhr sie mich sichtlich aufgebracht an. »Ist Dir etwa noch nicht aufgefallen, dass Hoppelmanns neuerdings ständig eine Schale frischer Milch für die Katzen aus der Nachbarschaft an seiner Terrassentür stehen hat? Was meinst Du, wozu er die Milch braucht? Der bestellt sich doch glatt eine Rolex. Dann fängt er unsere Milla ein, hält sie dem Boten unter die Nase und der scannt ihren Chip auf den Lieferschein – ganz offiziell als Empfängerin.«

Ich hatte plötzlich einen Kloß im Hals und musste schlucken. Meine Dea besitzt brasilianisch-italienisches Temperament und war von daher nicht zu bremsen. »Er könnte danach einfach sagen, die Uhr sei nie bei ihm angekommen. Sobald er dann vom Händler bestätigt bekommt, dass unsere Milla das Ding in Empfang genommen hat, flattert uns eine Klage auf Herausgabe der Rolex oder Schadensersatz ins Haus.«

Sie hatte Recht. Hoppelmanns hatte schon als Messdiener den Klingelbeutel geräubert, wurde mehrfach beim Schwarzfahren erwischt und hatte in den meisten Restaurants der Umgebung Hausverbot wegen Zechprellerei. Außerdem soll ihm wegen seiner eBay-Betrügereien und nicht bezahlter Kreditraten demnächst der Prozess gemacht werden. So zumindest hatte uns das die alte Frau Meier von gegenüber erzählt. Und die war für gewöhnlich bestens informiert.

Obwohl ich immer nervöser wurde, war ich dem Lieferanten und meiner Frau dankbar. Immerhin hatten die beiden für Klarheit darüber gesorgt, dass unsere Milla ab sofort nicht mehr als streunende Hauskatze, sondern als rechtsfähige Person gemäß Paragraph 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches unterwegs war. Zumindest für die Zeit, in der sie Hoppelmanns für seine Zwecke missbrauchte.

Meine Frau und ich sahen uns sorgenvoll an. Dann sprangen wir auf, griffen unsere Jacken und liefen in die untergehende Sonne hinaus, um unsere Milla vor Hoppelmanns geschäftlichen Transaktionen zu beschützen. Als wir nach mehreren Stunden vergeblicher Suche völlig erschöpft und heiser gebrüllt zurückkamen, saß unser Stubentiger vor der  Haustür. Müde und hungrig zwar, aber immerhin wieder in Sicherheit.

Zunächst behielten wir Milla im Haus. Unsere Furcht vor Hoppelmanns Tricks und Raffinesse war einfach zu groß. Als ich ihm dann an einem der nächsten Tage auf der Straße begegnete, blieb er stehen und erkundigte sich mit seiner üblichen, heimtückischen Freundlichkeit: »Was macht eigentlich Ihre Milla? Sie war schon länger nicht mehr bei mir. Normalerweise schaut sie mehrmals in der Woche auf meiner Terrasse vorbei – wegen der Milch, Sie wissen schon.«

In seinem Blick lag etwas, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte – ein winziges, kaum sichtbares Grinsen. Es war das Grinsen eines Mannes, der weiß, dass er nur noch einen Schritt vom perfekten Verbrechen entfernt ist. Ich nickte höflich, aber dann machte ich mich so schnell wie möglich aus dem Staub.

Mit der Zeit wurde Millas klagendes Miauen zur Tortur. Sie ist nun mal eine Streunerin und das Eingesperrt sein liegt ihr nicht. Deshalb gaben wir am Ende nach. Abends, wenn die letzten Paketboten in der Dunkelheit verschwunden waren, öffneten wir einen Spalt breit die Tür und ließen sie hinaus. Aber nicht ohne ein mulmiges Gefühl und in der bangen Hoffnung, dass sie vor dem nächsten Lieferwagen und dem nächsten Lieferschein zurück sein würde.

Wochenlang ging alles gut. Eines Tages aber wartete ich frühmorgens vergeblich auf die Rückkehr meiner Katze. So machte ich mich, krank vor Sorge, auf die Suche nach ihr. Kaum war ich aus dem Haus, entdeckte ich auch schon den Haustier-Scanner mit seinem Transporter vor dem Gartentor von Hoppelmanns. Vor ihm stand dann auch Hoppelmanns höchstpersönlich und auf dem Arm trug er - unsere Milla. 

Wie von Sinnen stürmte ich, laut »Haltet sie auf!« brüllend, auf die beiden Ganoven zu. Dabei sah ich wie durch einen grauen Schleier, dass der Paketbote seinen Arm hob, um zum alles entscheidenden Scan meiner hilflosen Katze auszuholen. Im letzten Moment warf ich mich zwischen die Beiden und entriss dem verdutzten Hoppelmanns das zitternde Bündel, das einmal meine Milla gewesen war. Danach floh ich, vor den Augen der versammelten Nachbarschaft, mit meiner Katze auf dem Arm zurück ins Haus. Nachdem ich die Haustür hinter mir zugeschlagen hatte und wieder bei Sinnen war, bemerkte ich, dass das kleine Wesen auf meinem Arm gar nicht meine Milla war. Es war noch nicht einmal eine Katze. Das Fellknäuel, dass mich da allerliebst anhechelte, hieß Rambo - und war Hoppelmanns altersschwacher Zwergpudel.   

Mein Fazit aus dieser Erfahrung lautet: 

Um Haustiere vor wilden Geschäftemachern und Panik-Prinzen wie mir zu schützen, hoffe ich, dass Online-Bestellungen sobald wie möglich ein Gentest beigefügt werden muss. Man könnte dann zum Beweis seiner Identität bei der nächsten Lieferung einfach in ein Glasröhrchen spucken. Fürs Erste werde ich mir meine Unterschrift zum Fotografieren auf die Stirn tätowieren lassen. Das ist modisch im Trend und  - im Sinne der europäischen Rechtsordnung – wohl auch korrekt.

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