Es war Samstagnachmittag 16.00 Uhr. Ich war zu Christianes Geburtstagsparty eingeladen worden und wollte ihr noch rasch ein Geschenk besorgen. Im Supermarkt gab es nette Geldkarten. Auf dem Weg dorthin überlegte ich, wie viele Euros ich in diesem Jahr in den kleinen Umschlag auf der Vorderseite friemeln sollte. Im vergangenen Jahr waren es noch Fünfzig, aber Christiane hat mit ihren dreißig Euro anlässlich meines letzten Geburtstages die Schlagzahl vorgegeben. So beschloss ich, es ihr mit gleicher Münze heimzuzahlen. Der DAX-Index unserer Freundschaft ging schon seit Jahren auf und ab und wenn ich eines Tages vor ihr sterbe, dann hat sie auf diese Tour vielleicht das Geschäft ihres Lebens gemacht.
Samstagabend 19.45 Uhr. Christiane öffnete die Tür und während ich mein Sprüchlein aufsagte, zeigte mir ihr Blick, dass sie wohl mit den 50 Euro des vergangenen Jahres gerechnet hatte. Für's Erste stellte sie meinen Umschlag mit einem Registrierkassenlächeln zu den übrigen und bat mich in ihr Wohnzimmer. Ich schaute in die Runde und dachte: »Wenn hier der Teufel los ist, dann muss die Hölle ein Schlaflabor sein.« Dann stellte ich mir die Frage, ob »Party« nicht einfach nur die Abkürzung für Paartherapie bedeutet, denn man war mit sich selbst beschäftigt und ich hatte das Gefühl, mein freundliches »Guten Abend in die Runde« hatte die gleiche Wirkung wie ein Ostfriesenwitz mitten in der Maiandacht. Während um mich herum die Diskussion über die Schulängste heranwachsender Sprösslinge, unpünktliche Handwerker und enttäuschende Traumurlaube lief, geriet ich aus lauter Langeweile ins Träumen. Mir fiel meine Jugendzeit in den siebziger Jahren ein und ich dachte daran, dass meine Eltern es bei ihren Feten noch richtig krachen ließen, denn das Zauberwort der siebziger Jahre Feten hieß »Partykeller!«
Damals schossen überall die Kellerbars aus dem Boden. Das hatte mit dem Zusammentreffen gleich mehrerer glücklicher Umständen zu tun. Moderne Waschmaschinen und Zentralheizungen machten die Wasch- und Kohlenkeller genauso überflüssig wie die neuartigen Supermärkte eine langfristig angelegte Vorratshaltung. Damit waren Kellerräume frei geworden, in denen Privat-Pubs mit selbstgebauten Theken eingerichtet werden konnten. Hier präsentierten ihre Besitzer dann stolz das, was ihr Erfindergeist aus ehemaligen Kleiderschränken und Vertikos so alles gezaubert hatte. Kein noch so kaputter Spiegel, kein Weihnachtslametta und keine alte Gartenlaterne oder Weihnachtslichterkette wanderte mehr auf den Sperrmüll. Alles schrille und leuchtende, bunte und plüschige, wurde für die Dekoration dieser Partykeller gebraucht. Auf die Wände wurden Fototapeten mit karibischen Motiven und an die Kellerdecken ausrangierte Eiertabletts in Regenbogenfarben geklebt. Wer etwas auf sich hielt, investierte in ein Stroboskop, eine Discokugel oder eine der neuartigen Schwarzlichtröhren, die dafür sorgten, dass man von seinen Gästen nur noch das blendend weiße Gebiss und die Flusen auf ihren Blusen und Pullovern sah. Auf den mit Spiegel- und Muranoglasscherben verzierten Regalen hinter dem Selfmade-Tresen standen einige der Up to Date Getränke Der Epoche - Bessem Genever, Apfelkorn, Persico und Killepitsch. Über den Barhockern baumelte eine Leuchtreklame für Asbach Uralt Weinbrand. Auf einem Beistelltisch mit einer bunten Lackdecke residierte der Party-Igel neben einer Etagere mit Kleinstfrikadellen. Drumherum Schüsselchen mit Cornichons und Mixed Pickles. Auf der Theke dann ein Topf aus Steingut mit schier süchtig machender Kellergeister-Erdbeerbowle für die Frauen und einem Zehn Liter Bierfass für die Männer. Dass es sich dabei um Hannen Alt handelte, wo doch an der Wand daneben ein aus der Stammkneipe geklautes Poster mit dem legendären Spruch »Männer wie wir - Wicküler Bier« prangte, störte die Feten-Euphorie nicht die Bohne. Um den Partydurst auf die Spitze zu treiben, standen auf der Theke, den Tischen und Regalen Glasschüsseln voller Salzstangen und Fischli-Salzgebäck. Den Knackpunkt bildete die Musik, denn leistungsstarke Stereoanlagen gab es zunächst kaum. Zudem waren Schallplatten teuer und im benötigten Umfang in den meisten Haushalten auch noch nicht vorhanden.
Deshalb hatte mein Vater seine große Stunde. Wenn ich ihn heute vor meinem inneren Auge sehe, steigt Rührung in mir auf, und unwillkürlich treten mir Tränen in die Augen. Denn mit seinem Tonbandgerät und einem Mikrofon bewaffnet, hatte er unzählige Abende vor seinem Grundig Röhrenradio zugebracht und die deutsche Schlager- und Blasmusik der Fünfziger und Sechziger mitgeschnitten. So wurde er in seinem Freundeskreis zum begehrten Partygast und DJ. Schwitzend, aber mit vor Begeisterung glänzenden Augen, spulte er unermüdlich die Tonbänder vor und zurück, um den perfekten oder gerade gewünschten Song aufzulegen. Das war mühsam und zeitaufwendig. Außerdem hatten die in seinem Tonbandgerät eingebauten Lautsprecher die Lautstärke einer heiseren Siamkatze. Damit konnte man die Partystimmung allenfalls vorwärmen, aber nicht zum Kochen bringen. Folgerichtig war dann die Investition in ein SABA HIFI Studio 8100 Radio, einem Luxusgebläse unter den damaligen Stereo-Beschallern. Zusätzlich kamen mit zwei 50-Watt Dual Boxen wahre Wiedergabebrüller in unser Haus.
Zu den Geburtstagen und Weihnachtsfesten der 70er Jahre schenkte man auch nicht mehr die obligatorischen Schnapsflaschen, Socken oder Pullunder, sondern nur noch Schallplatten. Dabei hatten die seichte, rührselige Heimatschnulze der 50ger Jahre und der seltsame deutsche Verschnitt englischer Beatmusik endgültig ausgedient. Von jetzt an hatte James Last mit seinem Happy Sound die Hoheit über die deutschen Partyohren. Der coverte nämlich jeden Hit der letzten fünfzig Jahre von Alaska bis zu den Fidschi-Inseln. Das war genau nach dem Geschmack der von der Kette gelassenen deutschen Volksseele. Es wurde geklatscht und gegröhlt, was der Blutdruck aushielt. Das betraf die »Schöne Maid« von Tony Marshall genauso wie »Ein Festival der Liebe« von Jürgen Marcus. Selbst die todtraurige Ballade »Am Tag, als Conny Kramer starb« von Juliane Werding wurde zum Partykracher. Das zeigte mir, dass die Generation meiner Eltern vor nichts mehr Halt machte und alte Klischees und Zwänge einfach abstreifte.
Ich erinnerte mich, dass die Partybude meines Vaters alle vier bis sechs Wochen auf Links gedreht wurde. Es ging so weit, dass wir Kinder im Schlafanzug mit unserer Flasche Fanta Limonade fassungslos, aber begeistert zusahen, wie eine über alle vier Backen strahlende menschliche Polonaisen-Raupe durch unsere Treppenhäuser, Wohnzimmer und Küchen wippte und wankte. Mit Verlaub, aber bei allem Respekt für Helene Fischer und Kollegen hatte der deutsche Schlager der 70er Jahre eine Qualität, Popularität, Vitalität und Nachhaltigkeit, schlichtweg einen »Bums«, wie er seither nie mehr erreicht wurde.
Für einen Moment lang hatte ich auch wieder den Geruch von Lachsersatzschnittchen und russischen Eiern, von Schinkenröllchen und Käsepickern in der Nase.
Als ich wieder zu mir kam, fragte ich mich: »Wo ist sie nur geblieben, die Unbeschwertheit, mit der meine Eltern und ihre Freunde zu »Marmor Stein und Eisen bricht« ihre Sorgen und Probleme einfach weg rockten?«. Oh ja - ob sie wollten oder nicht, aber sie hatten das Rock’n’Roll Lebensgefühl, das sie noch an meine Generation weitergaben und von dem heute so herzlich wenig übriggeblieben ist.
Mir kommt es vor, als wären mit der Neuen Deutschen Welle der achtziger Jahre auch die Lebensfreude und die Spontanität abgeebbt . Wir und – schlimmer noch - unsere Nachkommen sitzen heute in Partyrunden, als wären wir therapiebedürftige Eichhörnchen, die sich im Stuhlkreis über Nüssedefizite und vorzeitigen Zahnausfall austauschen. Dabei bilden wir uns ein, unser positives Lebensgefühl aus immer exotischerem Fingerfood, veganen Kleister Dips und spinatgrünen Veggie-Drinks beziehen zu können.
Um es auf den Punkt zu bringen: Unser gesunder Appetit auf herrlichen Blödsinn wurde offenbar auf dem Altar der laktosefreien Ernsthaftigkeit und der digitalen Selbstoptimierung geopfert.
In einem Anflug von Unzufriedenheit machte ich mich auf den Weg an das Buffet. Aus den kleinen PC-Speakern in der Küche klang diskret Van Halen’s Rocknummer »Jump« zu mir herüber. Das musste ein Regiefehler von Christiane sein, denn eigentlich wurde die latente Suizidalität durch eine transzendente Klang-Suppe aus Schwanengesängen und Pottwalgeknurre unterstützt.
Aus mir brach es heraus. Ich imitierte unvermittelt David Lee Roth‘s legendären 360 Grad Sprung und gröhlte los: »I get up, and nothin‘ gets me down!« Aber mein emotionaler Alarmstart wurde abgebremst wie eine F-22 auf dem Deck eines Flugzeugträges. Christiane wies mich freundlich darauf hin, dass meine Performance ein No Go sei. Ich setzte gerade an zu erklären, dass ich dem lethargischen Kokon der Düsternis einen kleinen Schuss echter Partylaune verpassen wollte, da näherte sich von hinten ihr Yoga-Instructor Adinath (Herr des Anfangs), der eigentlich Achim heißt. Mit seinem gewohnt spirituellen Lächeln sagte er, wie aus dem Moment geboren: »Ein herrliches Sit-in, ganz großes Kino! Wie immer ein rauschendes Fest bei dir – Doch jetzt sind Amala (die Unsterbliche) und ich restlos verzaubert und sollten dringend dem Ruf unseres Bettes folgen.«
Es war Samstagabend und es war 21.15 Uhr.
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