Tante Wiltrud, eine echte Rheinländerin, wurde 1940 geboren und besitzt das Temperament eines ganzen Karnevalszuges und die Sturheit eines rheinischen Sauerbratens. Man kann sagen – sie lebt. Und zwar so sehr, dass ihr Hausarzt regelmäßig erschrocken zusammenzuckt, sobald sie die Praxis betritt. „Schon wieder?“ flüstert er dann. »Ich dachte, Sie wären... na ja… Sie wissen schon... in Kur oder so.«
Doch Tante Wiltrud ist keine, die sich so einfach verabschiedet. Sie hat den Krieg überstanden und den Wiederaufbau geschultert. Nach der Arbeit half sie beim Bau ihres Hauses und erntete zentnerweise Obst und Gemüse in ihrem Kleingarten. Nebenbei brachte sie noch drei Kinder zur Welt, dann mit dem Fahrrad zum Kindergarten und später zur Schule. Sie hat das Patriarchat von Onkel Karl mit der Bratpfanne kontrolliert und im Laufe der Jahre mehr Kellergeister Sekt vernichtet als drei Winzergenerationen. Seit einiger Zeit jedoch machte sie sich Sorgen um den Stoff, aus dem die Alpträume alter Menschen sind, und der heißt – Cholesterin. Oder wie sie es nennt: »meine inneren Werte.«
Jedes Jahr zu Ostern, während andere Leute Eier suchen oder Hasen jagen, bringt Tante Wiltrud ihre Blutwerte mit. Ausdruck, zwei Seiten, gelocht und brandaktuell. Kaum hatte sie ihren Mantel abgelegt - es dauerte etwas länger, da er mit ihren massigen Oberarmen verwachsen zu sein schien -, wedelte sie schon mit einem DIN-A4-Zettel und reichte das Formular anschließend zur allgemeinen Kenntnisnahme in die familiäre Runde.
»Cholesterin - 384 mg. Ich bin janz oben auf der Skala. Die Schwester im Labor hat sich sojar jewundert, dat ich überhaupt noch durchblutet werde!« Danach stellte sie uns die ängstliche Frage, was sie gegen diesen unerklärlich hohen Blutfettwert unternehmen könne. Immerhin würde sie ja kaum etwas Belastendes essen und kochen sowieso nur mit Becel-Margarine. Nebenbei bemerkt: Becel, das ist bei der Ü70-Generation schon lange nicht mehr nur ein Brotaufstrich – es ist eine Lebenseinstellung. Ein heiliger Gral der Herzkranzgefäßpflege. Man könnte meinen, der Slogan laute: »Becel – jetzt auch als Glaubensrichtung!«
Während sie ihr zweites Stück Sahnetorte verzehrte, wandelte sich die festliche Kaffeetafel dann auch umgehend, wie so oft, zu einer Krisensitzung mit Tante Wiltruds gefährlicher Fettstoffwechsellage als einzigem Tagesordnungspunkt.
Cousine Karin, die Tochter von Onkel Ewald und Tante Sophie, versteht nichts von Medizin. Da Cholesterin aber seit Jahrzehnten ein zentrales Thema der Apotheken-Rundschau ist, kannte selbst sie sich mit dem Horrorbefund von Tante Wiltrud aus.
»Tante Wiltrud! Das ist viel zu hoch! Du musst sofort deine Ernährung umstellen. Ich hab da so ein Rezept für glutenfreien Algen-Hirse-Brei«
Tante Wiltrud zeigte sich skeptisch. »Kindchen, ich ess doch nix, wat aussieht und schmeckt, als hätte dat schon mal jemand jejessen.«
Onkel Helmut murmelte: » Also ich sag Dir wat, Wiltrud: Jeden Morgen eine Knoblauchzehe im Schnaps. Dat hat mein Schwager jemacht, bis er mit 92 gestorben ist. Die Kellertreppe runterjefallen is er, aber immerhin cholesterinfrei.«
Tante Wiltrud fauchte zurück. »Ich trink jern mal ein Schnäpschen, aber ich tu doch nich irjendein Jemüse da rein.«
Ich, immerhin gelernter Hausarzt. »Vielleicht solltest Du... ein bisschen weniger Sahne essen?«
Tante Wiltrud, mittlerweile empört. » Sahne? Junge! Ich hab den Krieg überlebt – mit Kartoffelschalen und Muckefuck! Wir haben Brot mit en Fingerspitze Butter bestrichen und Zucker höchstens jerochen, wenn Dein Jroßonkel Justav mit sein Diabetes auf dem Klo jewesen war. Da werde ich doch jetz nich auf dat bissken Spaß am Leben verzichten?«
Es war zu erwarten gewesen. Alle unsere diätetischen Ratschläge verloren sich wie immer ungehört und ebenso schnell wie die Kohlenhydrate des dritten Kuchenstückes in den unendlichen Weiten ihrer molligen Erscheinung. Sie ist schon lange resistent gegen unsere fürsorglichen Empfehlungen und das hat seinen guten Grund.
Cholesterin ist der Stoff, mit dem sich Eindruck machen lässt. Er wird allgemeinverständlich in Zahlen ausgedrückt und dadurch zu einer vergleichbaren Größe im Kampf um die Aufmerksamkeit, die ein älterer Mensch oftmals nur über die Schwere seiner Erkrankung bekommt. Tante Wiltruds Herz ist zwar so groß wie ein Schuhkarton, ihre Lunge so elastisch wie ein kaputter Wasserball, ihre Leber so weich wie eine Beuys’sche Fettecke und ihre Niere so verstopft wie ein gebrauchter Kaffeefilter. All dem aber misst sie wenig Bedeutung bei. Selbst die Tatsache, dass sich ihre roten Blutkörperchen nur noch einzeln durch die verkalkten Rohrleitungen ihrer drallen Körperwelt zwängen, bereitet ihr kaum Sorgen. Sie belegt einen Spitzenplatz in der Cholesterinliga, ist vielleicht sogar Tabellenführer in der Riege ihrer Freundinnen und einzig und allein das bringt ihr die Anerkennung, die einer Ü75erin ansonsten zumeist verwehrt bleibt.
Und so lebt Tante Wiltrud weiter. Zwischen Becel und Butter, zwischen Angst und Anerkennung, zwischen Kardiologe und Konditorei. Ihr Herz klopft laut, ihre Arterien pfeifen leise, aber ihre Stimme ist klar: »Solange ich Cholesterin habe, gehöre ich dazu. Und das bleibt auch so.«
Dann greift sie zum vierten Stück Sahnetorte. Schließlich muss der Spitzenplatz ja gehalten werden.
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