22. He Willi, mama vier Pils
Über das Bierholen beim Sommerfest

Aus unterschiedlichen und teilweise unerklärlichen Gründen hege ich einen inneren Widerstand gegen bestimmte Orte. Das sind unter anderem die Praxis meines Zahnarztes, das Büro meines Steuerberaters und der völlig überfüllte Bierstand beim allsommerlichen Stadtfest. Aber genau hier wollten mich an diesem Abend meine beiden besten Freunde treffen. Damit ich meine innere Abwehr überwand, wurde ich aus psychologischen Gründen umgehend zum Bierholen geschickt. Das erwartungsfrohe Gedränge der Alkoholbedürftigen glich einem Autoscooter-Geschubse und ich brauchte eine gewühlte Ewigkeit, bis dass ich es schaffte, meinen Herzenswunsch nach drei frisch gezapften Pils hinaus zu brüllen. Das heißt, es war eher eine Bitte um Erbarmen. Der biergewaltige Zapfer stand in seinem Ausschankwagen 50 cm höher als ich und erweckte in mir den Eindruck, dass er in dieser gehobenen Stellung eine Teilzeitmonarchie errichtet hatte und seine Gaben buchstäblich »von oben herab« reichte -  Günstlinge zuerst, Hofnarren zuletzt - . Dazwischen schaute er versonnen in die Ferne und über die Köpfe der Bittsteller hinweg. Diese mussten nun versuchen, seinen Augen mit dem

flehenden Blick des Verdurstenden in dem Moment zu begegnen, wo er sein Haupt senkte, um den Füllungszustand des nächsten Glases zu prüfen. Nein, an dieser Tränke der heiligen Bierseligkeit bekam man keinen Gerstensaft, sondern ein Gnadenbrot. Hier zählte nicht der zuvorkommende Service, sondern die Schlagzahl, die Druckbetankung und das Laufenlassen. Dessen Effektivität spürte ich dann auch am  eigenen Leib. Als ich nämlich irgendwann meine Getränke bekam, verklebte mir die überschäumende Flüssigkeit aus den fettigen Gläsern mit knallrotem Lippenstiftrand sämtliche Finger. Mit nur einem Glas kann man tropfnasse Hände wechselseitig schütteln oder am Hosenbein reiben. Ich aber bugsierte gleich drei schwappende Biere durch die Menge und deshalb kam es mir vor, als hätte ich mir in die hohle Hand gepinkelt. Ich stellte fest, hier wurden keine Hände, sondern Flossen gebraucht und ich fragte mich, ob so jetzt das Ende der zivilisatorischen Fahnenstange aussieht. 

Im alten England erfand König Artus die Tafelrunde, damit jeder Ritter das Gefühl haben konnte, ein gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Der Bierstand hatte auch vier gleichberechtigte Seiten, aber ritterliche Gerechtigkeit fiel hier dem Darwin'schen Gesetz des Stärkeren zum Opfer. Es gab keine Frauenquote und auch keine besondere Beachtung von Behinderten. Hier galt nicht die Reihenfolge, sondern das  Recht des Lauteren - oder am besten - das des Bekannten. Wer »He Willi, mama vier Pils!« brüllen konnte, hatte Heimvorteil und genoss das oftmals aus den gleichen vollen Zügen, mit denen er sein Glas direkt vor Ort lehrte und mit triumphierender Geste sofort das nächste bestellte. 

Mir wäre eine Kassenschlange wie im Supermarkt lieber. Man könnte ab und zu jemanden vorgehen lassen, der mal eben seinem erschöpften Fünfjährigen ein Glas Wasser holen will. Ansonsten müssten sich die Vertreter des Faustrechts und der Ignoranz genauso fügen wie die Vertreter sozialer Kompetenz und bescheidener Zurückhaltung. 

Aber vielleicht bin ich ja einfach nur zu empfindlich für ein fröhliches Sommerfest.

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