Moritz hatte schon im Kindergarten und in der Schule wegen seiner ewigen Besserwisserei ein chronisch blaues Auge. Das tat aber seinem Anspruch, stets und allerorts »der Herr der Dinge« zu sein, leider keinen Abbruch. Kindliches Faustrecht weicht irgendwann im Leben der Vernunft und der Angst vor Bestrafung oder gleich allem beiden. So konnte er später unbehelligt von unseren Gegenmaßnahmen sein überhebliches Unwesen weitertreiben. Er war groß, schlaksig und rothaarig. Ohne den übrigen Rothaarigen zu nahetreten zu wollen, traf zumindest in seinem Fall die Warnung »Hüte dich vor dem roten Mann« aus einer alten mallorquinischen Legende zu. Moritz war eigentlich sehr clever und hätte seine ewige Angeberei nicht nötig gehabt. Aus unerklärlichen Gründen gehörte er aber zu den narzisstischen Stinkstiefeln, die ihrem Gastgeber bereits bei ihrem Eintreffen mit einer Frage wie dieser: »Deine Flurlampe hängt zu tief, warum hast du sie nicht höher aufgehängt?« in Erklärungsnot bringen wollen. Mit solch einer virtuosen Einlage rocken sie die Show und für den Rest des Abends fühlen sie sich wie die Sonnenkönige. Manch einer von ihnen geht auch einen Schritt weiter. »Deine Flurlampe hängt zu tief, ich hätte sie höher aufgehängt.« Unser Moritz jedoch beherrschte sogar den Superlativ der Abwertung seines Opfers – und der ging so:
Vor Jahren waren seine und die Tochter meines guten Bekannten Werner im Kindergarten beste Freundinnen gewesen. Als Moritz seine Tochter eines Abends bei Werner abholte, feuerte er die folgende Breitseite ab. »Deine Flurlampe hängt zu tief. Ich komme morgen vorbei und hänge sie Dir höher. Mein Profiwerkzeug bringe ich mit. Du brauchst Dich also mit Deinem Baumarktkrempel nicht zu bemühen.« Zu Werners Reaktion auf diese Statement ist zu sagen: Er ist 1,90 m groß, bringt 120 Kg reine Muskelmasse auf die Waage und ist, vor allem, selbstständiger Elektromeister. Werners Ehefrau Sylvia konnte ihn gerade noch davon abbringen, Moritz an die Stelle der Flurlampe zu hängen. Der Kompromiss sah dann wie folgt aus: Die beiden Töchter konnten zwar weiterhin miteinander spielen, aber Moritz durfte sich Werners Haus niemals mehr weniger als zwanzig Meter nähern.
Moritze sind zwar nicht immer rothaarig, und sie heißen auch zumeist nicht Moritz, aber sie sind wahrscheinlich jedem von uns schon über den Weg gelaufen. Meiner Erfahrung nach treten sie gehäuft in Behörden auf, wo sie unter hoheitlichem Artenschutz eine unantastbare Stellung einnehmen. So auch der unvermeidbare Moritz - allmächtiger Sachbearbeiter beim städtischen Bauamt und grenzwertig toleriertes Mitglied der freiwilligen Feuerwehr unserer Stadt.
Leider hatten Moritz und ich mit Dietmar einen gemeinsamen Bekannten. Bei dessen Feier anlässlich seines 60sten Geburtstags lief mir Moritz auch gleich über den Weg. »Hallo Wolle, wie geht es Dir und Deiner Familie? Ich habe gehört, Ihr macht in diesem Sommer Urlaub auf Mallorca. Wir waren schon etliche - Male auf Malle - Haha, guter Witz oder? Deshalb kennen wir uns bestens auf der Insel aus. Ich denke, ich kann Dir einige hervorragende Tipps geben. Was hast Du denn bezahlt, wenn ich fragen darf?«
Diese Frage stellte er mit tückischem Blick und lauthals in die Runde. Ich hatte genug Erfahrung mit Moritz, dem Blamator, um nicht mit der Wahrheit rauszurücken. Ob wahr oder gelogen, er hätte mir garantiert ein provokantes »Ich hätte es für die Hälfte des Preises bekommen« sowie ein süffisantes »Auf der Insel gibt es aber schönere Orte als den, den du da ausgesucht hast« um die Ohren gehauen. Zum Glück war meine Frau heute nicht dabei. In ihrer offenen und ehrlichen Art hätte sie ihm den korrekten Preis genannt und dabei in Kauf genommen, dass er mich genüsslich abseift.
Ich erinnerte mich, dass er ein einziges Mal zu uns eingeladen worden war und sich vor allen Leuten mit dem Hinweis auf die »DIN 18015-3« darüber mokiert hatte, dass alle Steckdosen in unserem Haus zwei Zentimeter zu hoch angebracht worden seien. Dass das meinem Bekannten Werner - dem Elektromeister, Haha - und mir nicht aufgefallen sei, sei ihm völlig klar. Wir wären ja immer schon viel zu oberflächlich gewesen. Moritz nutzte eben jede Gelegenheit, um Hinz und Kunz lächerlich zu machen.
Die Abwesenheit meiner liebenswürdigen Ehefrau gab mir an diesem Abend die einmalige Gelegenheit, es dem bornierten Zampano ein Stück weit heimzuzahlen. Dabei war mir auch völlig egal, dass man mir danach in dieser Stadt niemals wieder den Bau eines Kaninchenstalls genehmigen würde. Mein Opportunismus starb genau hier und jetzt.
Ich tat so, als hätte ich seine Frage nach dem Preis unserer Reise überhört. Dann nahm ich die Behauptung, er kenne die Insel wie seine Westentasche, aufs Korn, und setzte alles auf die Karte der arglistigen Täuschung. Zunächst kam die Rache für die Sache mit Werners Flurlampe.
»Wir wollen diesmal unbedingt nach Puerto Bajuff. Ich selbst kenne den Ort nicht, aber er soll ziemlich malerisch sein. Du warst doch bestimmt schon einmal da - oder etwa nicht?«
Den Ort Puerto Bajuff gibt es nicht auf Mallorca, aber einen Radschlagenden Pfau wie ihn packt man am ehesten bei seiner Ehre. Moritz zögerte noch mit seiner Antwort, als mir seine, normalerweise, eher devote Gattin Marie bei meiner Intrige unbeabsichtigt zu Hilfe kam. »Aber sicher doch, mein Schatz. Erinnerst du dich nicht?«
Er hatte seine bessere Hälfte über die Jahre hinweg darauf dressiert, seine scheinbare Überlegenheit in allen Dingen durch eine passende Bemerkung aufzupimpen. Diesmal passte sie nicht, weshalb Moritz noch einen weiteren Moment lang schwankte. Mit Rücksicht auf seine vorlaute Souffleuse fasste er sich dann aber ein Herz und ging mir mit einer Lüge auf den Leim. »Sicher, aber klar doch. Ein herrlicher Ort. Etwas abseits gelegen, aber sehenswert - besonders der Hafen.«
Wenn er nun hoffte, ich würde es dabei bewenden lassen, hatte er falsch geparkt. Die Treibjagd auf diesen Tröthahn begann mir zu gefallen.
Nun folgte die Quittung für die Steckdosennummer. »Es soll dort auch eine der schönsten Kirchen auf der Insel geben – mit vielen Gemälden alter mallorquinischer Künstler.«
Moritz Augenlider begannen zu zucken. »Ja, ja. Da waren wir natürlich auch. Aber leider war die Kirche geschlossen. Renovierungsarbeiten - wenn du verstehst.«
Sicher verstand ich ihn. Mein ganz persönlicher Pinocchio versuchte sich aus der Affäre zu ziehen. Aber nicht mit mir, mein Lieber. Ich roch schon förmlich seinen Achselschweiß.
Jetzt war die Revanche für ein halbes Dutzend verzögerter Baugenehmigungen für meine Freunde und Bekannten an der Reihe. »Das mit der Kirche finde ich schade. Aber Ihr wart doch sicher auf dem historischen Leuchtturm. Man soll ja von dort aus einen wunderbaren Blick auf die alte Inselhauptstadt Inca haben. Soll nur schwer zu erreichen sein, der Turm. Was meinst Du?«
Moritz Augenzucken war einem Flackern gewichen, denn mittlerweile hatten sich einige Partygäste um uns geschart, um seinen für gewöhnlich selbstdarstellerischen Predigten zu lauschen. Sein Bedürfnis nach Bewunderung war riesengroß. Das Erstaunliche daran: Sie wurde ihm auch von einigen, vor allem weiblichen Fans, entgegengebracht. Das Charisma der Selbstüberschätzung bei solchen Typen übt offenbar eine seltsame Faszination auf manche Menschen aus. Deshalb wagte es wohl auch keiner von ihnen, dem Großmeister zur Hilfe zu eilen, obwohl einige das Spiel sicher schon durchschaut hatten.
Eine Rolle rückwärts ließ sein Ego nicht zu, weshalb er log, dass sich die Salzstangen bogen. »Nein, nicht für uns. Marie und ich sind noch super fit.«
Seiner fitten Pechmarie war längst klar, was sie angerichtet hatte. Deshalb tunkte sie ihren hochroten Kopf in immer kürzeren Abständen in ein riesiges Glas Rotwein.
Mochten die anderen Gäste mich ruhig für einen bösartigen Inquisitor halten. Ihre Verachtung gegenüber meinem Feldzug nahm ich gerne in Kauf.
Moritz schwadronierte sich weiter um Kopf und Kragen. »Man muss halt gut zu Fuß sein und nicht sehr ängstlich, dann ist der Aufstieg zum Turm vielleicht auch für Dich und Deine Dea machbar. Aber Ihr solltet morgens hingehen, mittags ist es zu heiß.«
Ich beschloss, den Vogel abzuschießen. »Du hast doch bestimmt ein paar schöne Fotos von Puerto Bajuff oder? Ich habe nämlich keine im Internet gefunden und auch den Ort nicht. Keine Ahnung, woran das liegt, aber vielen Dank für das interessante Gespräch.«
Dann wandte ich mich von ihm ab, verabschiedete mich von den Gastgebern und verließ das Haus. Zurück ließ ich einen entlarvten Superstar, seine schwer getroffene Zuchtperle und seine, über meine Kampagne leise tuschelnde, Anhängerschaft.
Aber gemach- Moritze beherrschen nicht nur die Rolle des Ehrabschneiders, sondern ebenso gut die des unschuldigen Opfers, denn im Kern ihrer Seele sind sie ausgemachte Mimosen.
Als redegewandter Demagoge hat er sicher schnell seine Fassung und Nonchalance wiedergefunden und seiner Entourage eine passende Erklärung für den Vorfall geliefert. Zur Not wird er alsbald auf der Insel ein Stück Küste kaufen und es unter dem Namen »Puerto Bajuff« bei seinen Kollegen im Katasteramt von Palma de Mallorca anmelden.
Letztendlich stand ich als der Bösewicht da und wurde am nächsten Tag auch von meiner Frau zur Rechenschaft gezogen. Aber ob populär oder unpopulär, das spielt keine Rolle. »Ein Mann muss tun, was er tun muss«, und für einen Moment fühlte ich mich so einsam, aber so gerecht wie Gary Cooper in »Zwölf Uhr mittags«, einem meiner Lieblingsfilme seit frühester Jugend.
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