Pitter war mit seinen Mitte Siebzig ein eigentlich noch rüstiger Rentner aus meiner hausärztlichen Praxis. Er hatte sich jedoch irgendwann in den Kopf gesetzt, sein
restliches Leben mit dem meinen über ein Dauer-Massagerezept zu verknüpfen. All die schmerzhaften großen und kleinen Enttäuschungen seines Daseins lenkte er auf seine Wirbelsäule und deshalb seine Schritte auch alle drei Wochen in meine hausärztliche Sprechstunde. Dabei sprach er mir jedes Mal die eigene Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden mit seinem einleitenden Satz ab. »Herr Doktor, Sie können sich nicht
vorstellen, was ich wieder mitgemacht habe.« Ein einziges Mal unternahm ich den hoffnungslosen Versuch, bei ihm so etwas wie Empathie zu wecken. »Doch, das kann ich mir vorstellen. Ich hatte nämlich schon einmal eine Herzoperation.« Pitter hatte aber keine Ahnung von postoperativen Schmerzen. Deshalb zweifelte er lieber an der Kompetenz der Anästhesie. »Ja, wie jetzt? Haben die die Operation ohne Narkose gemacht? Das darf doch nicht weh tun! Da hätte ich Denen hinterher aber was erzählt - das kann ich Ihnen sagen.«
Seine Ehefrau Hertha, eine rundliche und gemütliche Mittsiebzigerin, verriet mir irgendwann im Vertrauen, dass sie ihm vor Jahren einmal klar machen wollte, dass die Entbindung ihrer Kinder auch etwas Schmerzhaftes gewesen sei. Daraufhin hätte er ihr verständnislos entgegnet: »Aber Kinder bekommt man nur vorne unten. Meine Schmerzen sind hinten von oben bis unten und deshalb doch viel schlimmer.«
Massagen sind die Lieblingstherapie vieler Patienten. Aufgrund der Budgetkürzungen der Krankenkassen verschreiben Ärzte sie bei gesetzlich Versicherten aber nur noch selten. Pitter hatte nur einen mittelschweren Verschleiß der Bandscheibe. Deshalb sollte er aus meiner Sicht auch nur das Mittel der ersten Stufe der therapeutischen Möglichkeiten erhalten, nämlich Pillen und den gut gemeinten, wenngleich wohl vergeblichen Rat: »Versuchen Sie es zunächst einmal mit Schmerztabletten und täglich eine halbe Stunde Gymnastik.«
Pitter war als erfahrener Hexenschussler der Meinung, er könne diese und auch gleich die zweite Stufe der Therapieoptionen - Spritze ins Gesäß und Quaddeltherapie – überspringen und bremste meinen Gang zum Musterschrank aus. »Das Zeug aus dem Schrank hilft nicht. Und als nächstes kommen Sie mir mit Spritzen. Aber das sage ich Ihnen gleich. Wenn ich eine Nadel sehe, kippe ich Ihnen hier sofort um und bekomme
Schnappatmung.«
Ich wurde unruhig »Wie jetzt, was wollen Sie denn sonst?«
Psychosomatiker brauchen keine harten Fakten, sondern persönliche, mitunter warmherzige, körperliche Zuwendung, und dieses Bedürfnis produzierte bei Pitter den Wunsch nach: »Ich will Massagen! Massagen sind das Einzige, was hilft.«
Um Massagen, den Sehnsuchtsort der ärztlichen Verschreibung, zu gewinnen, muss aber selbst der erfahrenste Hypochonder wie Pitter jede Menge Handgreiflichkeiten und
bösartige Strahlung ertragen. Nach Tabletten und Spritze in den Allerwertesten kommt nämlich zunächst die dritte und weitaus schwierigere Hürde auf dem Weg in das Fango, und die heißt - Röntgen und Akupunktur beim Orthopäden.
Pitter überwand dieses Hindernis mühelos ohne die Spur von Schmerzlinderung, weshalb ihm anschließend die hohe Kunst der Krankengymnastik drohte. Er wusste, wer Massagen will, muss dem Angriff der Bewegungstherapeuten trotzig wie ein Fels in der Brandung widerstehen.
Nach mehreren Wochen intensiver Beübung erwies er sich also auch hier so robust und unbeweglich wie Dagobert Ducks Panzerschrank. Am Ende hatte er mit seiner Therapieresistenz seine Krankengymnastin an den Rand der Verzweiflung gebracht und das Budget seines Orthopäden buchstäblich vor die brettharte muskuläre Wand gefahren.
Pitter musste zurück zu mir, um die nächste Barrikade auf der Straße zum Eldorado der Masseure und Osteopathen niederzureißen. »Der Orthopäde hat gesagt, Sie sollen mir
Blut abnehmen für gegen Rheuma und vielleicht mal in die Röhre schicken. Aber ich weiß jetzt schon, das wird mir auch nicht helfen.«
Also ließ ich sein Blut auf sämtliche entzündlichen und degenerativen Erkrankungen untersuchen und veranlasste zudem ein CT und ein PRT. Letzteres ist eine therapeutische Tiefenspritze bis an die Nervenwurzel mit der Injektion einer hochwirksamen Schmerzmittelkombination durch den Radiologen oder Orthopäden. Da alle Laborergebnisse unauffällig waren und die Injektionsbehandlung erwartungsgemäß ebenfalls keine Linderung brachte, empfahl der Radiologe eine Kernspintomografie des betroffenen Wirbelsäulenabschnittes.
Pitter war wie immer unzufrieden. »Der Röntgendoktor meinte, ich brauch jetz dringend einen Kernspind. Ich hab aber erst einen Termin für das nächste Jahr bekommen. Können Sie nicht mal selbst da anrufen, damit das schneller geht? Sonst gehe ich nämlich vor Schmerzen vor die Hunde.«
Nachdem ich mir bei der genervten Anmeldekraft des Radiologen irgendetwas aus den Fingern gesogen hatte, saß mein grollender Schmerzpatient schon nach vierzehn Tagen wieder vor mir mit dem Vorwurf: »Der Kernspind hat auch nicht geholfen. Es tut immer noch unglaublich weh.«
Mit seiner Penetranz hatte er mich derart niedergeschmerzt, dass ich, der Türsteher an der Pforte zum Massagehimmel, meinen Widerstand nun endlich aufgab.
Fortan hatte er einen Freibrief, mich überall und ständig an meine Verpflichtung zur notfallmäßigen Verordnung von Massagen zu erinnern, denn Massage hilft bei einem Charakter wie dem von Pitter immer nur bis zum nächsten Rezept.
»Herr Doktor, Sie können sich nicht vorstellen, was ich wieder mitgemacht habe«, waren dann auch seine Worte, als er mich beim Sonntagsfrühstück mit meiner Familie störte,
mir beim Karneval die Pappnase vom Gesicht riss, mich bei meinem eigenen Krankenhausaufenthalt besuchte und eines Tages sogar in der Dusche überfiel, nachdem er sich an einem meiner Söhne vorbei in mein Haus gedrängelt hatte.
Ich sehe ihn schon vor mir, wie er irgendwann an der Himmelspforte dem Heiligen Petrus droht: »Ich komme hier nur rein, wenn es Massagen gibt!«
Wir benötigen Ihre Zustimmung zum Laden der Übersetzungen
Wir nutzen einen Drittanbieter-Service, um den Inhalt der Website zu übersetzen, der möglicherweise Daten über Ihre Aktivitäten sammelt. Bitte überprüfen Sie die Details in der Datenschutzerklärung und akzeptieren Sie den Dienst, um die Übersetzungen zu sehen.