Ich versuchte schon als Kindergartenkind, das Lesen zu lernen. Meine ersten Übungen unternahm ich mit einigen handtellergroßen »Pezzi, der Igel«-Büchern. Darin waren Bilder mit kurzen Sätzen, anhand derer ich mithilfe meiner Mutter das Buchstabieren übte. Da es mir nach meinen Pezzi-Büchern zunächst an weiteren Kinderbüchern mangelte, widmete ich mich zwangsläufig der in unserem Haus reichlich vorhandenen christlichen Literatur. Bei meiner Suche nach Lektüre fiel mir ein geheimnisvolles dickes Buch mit dunkelrotem Kunstledereinband in die Hände. Darauf stand in großen goldenen Lettern lediglich der Begriff »Kinder-Bilder-Bibel« geschrieben. Das, was ich in dieser Bibel zum Sehen bekam, hatte nichts mehr mit Pezzi, dem Igel oder sonst einem friedfertigen Wald- und Wiesenbewohner zu tun. Besonders die Gräueltaten des Alten Testamentes waren in frommer Verzückung derart in Szene gesetzt worden, dass selbst einem Maler wie Hieronymus Bosch vor Schreck die Farbe am Pinsel getrocknet wäre - und der war schließlich ein Meister des Grauens.
Ich war verwirrt, denn die bösartigen Darstellungen in diesem heiligen Buch standen im krassen Gegensatz zu den überall in unserem Haus hängenden Bildern von der heiligen Muttergottes, von herzallerliebsten Engelchen und den betenden Händen von Albrecht Dürer. Dazu noch die Gutenachtgeschichten meiner Mutter, die von der frommen Genoveva oder von einem Leben in Demut und Nächstenliebe als notwendige Voraussetzung für ein gottgefälliges Dasein erzählten.
Beim Anblick des Tabletts mit dem abgetrennten Schädel von Johannes dem Täufer und dem tieftraurigen Jonas im Magen des Wals fragte ich mich jedenfalls, ob hier nicht jemand versuchte, mich aufs Kreuz zu legen. Mit meinen fünf Jahren hatte ich immerhin schon eine gewisse Vorstellung von Friedfertigkeit und Nächstenliebe, und die deckte sich auch nicht mit den Bildern vom absaufenden ägyptischen Heer, den Jünglingen im Feuerofen und Daniel in der Löwengrube. Als ich dann Abrahams Versuch sah, seinen eigenen Sohn Isaak zu killen, war ich fassungslos. Ich suchte theologische Hilfestellung. Die fand ich schlussendlich bei meiner Großmutter. Sie erklärte mir, dass das, was ich da las und sah lediglich fromme Geschichten wären. Alles weitere dann später, wenn ich größer wäre. Ich konstatierte: Frömmigkeit ist, wenn du, wie Abraham, jemandem ein 30 cm langes Messer in die Brust jagen willst. Später, in der Schule, lernte ich dann anhand der Kreuzzüge, dass richtig dolle Frömmigkeit auch schon mal Schwerter, Lanzen und Kanonen benutzt, um jemanden zum Teufel zu schicken.
Nach den beruhigenden Worten meiner Oma wandte ich mich der Szene von dem tödlich getroffenen Goliath zu, die mich mit einer gewissen Zufriedenheit erfüllte. Immerhin hatte der kleine David dem Riesen und mir gezeigt, was eine Steinschleuder so alles drauf hat. Kleine Jungs behalten so etwas im Hinterkopf und irgendwann hatte ich dann auch meine eigene Schleuder. Der Unterschied zur historischen Vorlage bestand darin, dass mein Goliath aus einer leeren Ravioli-Dose bestand.
Mit Entsetzen betrachtete ich dann wieder die Bilder von den einstürzenden Mauern von Jericho und dem Turm zu Babel, der hunderte von Leuten unter sich begrub. Als ich dann auch noch auf ein Bild des Jüngsten Gerichtes mit den im Höllenfeuer lodernden Leibern hoffnungsloser armer Sünder stieß, half mir auch die Aufklärung durch meine Großmutter erst einmal nicht weiter.
Wenn so die Liebe Gottes aussah, wie mochte es da erst um die Christenheit bestellt sein, wenn er übel drauf war. Dieser Mann da mit dem langen weißen Bart verstand keinen Spaß und das christliche Leben war offensichtlich eine höchstgefährliche und tragische Angelegenheit.
Danach sah ich mir jedoch die versöhnlichen Bilder mit den Segensgesten und dem Lämmerstreicheln aus dem Leben Jesu an und spürte eine gewisse Erleichterung. Allerdings war ich auch ziemlich verwirrt. Der Mann hatte gerade noch tonnenweise Fisch und Wein hergezaubert sowie auf wundersame Weise Kranke und sogar Tote saniert und wurde dafür von der Menge völlig zu Recht bejubelt. Aber kaum blätterte ich ein paarmal um, ließ dieselbe Menge ihn ans Kreuz nageln – mit Applaus von der Seitenlinie. Das brachte meine spirituelle Komfortzone zwar ins Wanken - aber egal. Jesus war ein toller Hecht, und das gehörte öffentlich verkündet. Ich machte mich also auf, um meine Spielkameraden im Kindergarten und auf der Straße zu missionieren. Dabei sprach ich jedweden heilig, der bereit war, meinen frommen Legenden eine Zeit lang zuzuhören.
Dieses theologische Unterfangen sprach sich in den katholischen Kreisen unserer kleinen Gemeinde schnell herum. Meine Großmutter sah in mir schon einen zukünftigen Kardinal und unser Kaplan zumindest einen erfolgreichen Messdiener. Als dann Schwester Agatha, die Leiterin unseres katholischen Kindergartens, meinem evangelischen Vater zu meinem theologischen Genie gratulierte, fiel dieser aus all seinen protestantischen Wolken. Deshalb zog er auch die Notbremse, als ich mich über das Buch »Sie nannten mich Donner« des Steyler Missionars Aloys Regensburger hermachte.
Nachdem ich bereits das erste Dutzend Seiten über die gefährliche Missionstätigkeit während des Völkermordes im chinesischen Bürgerkrieg gelesen hatte, bekam ich endlich die kindliche Lektüre, die ich nach Meinung meines Vaters dringend benötigte. Das waren der Struwwelpeter und Max und Moritz mit ihren putzig-blutigen Abenteuern.
So verbrachte ich meine Kindergartenzeit im fröhlichen Wissen um die mörderischen Wurzeln christlicher Nächstenliebe sowie den tödlichen Folgen von Leichtsinn, Ungehorsam und jugendlicher Kleinkriminalität - Hallelujah!
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