Manche Erinnerungen lösen sich schneller auf als Brausepulver im Wasserglas. Andere halten sich ein wenig länger, wie die an den Geruch der frisch gebackenen Plätzchen bei der Oma. Doch eine blieb mir bis heute – mein allererstes Eheversprechen. Es galt der kleinen Simone aus meiner Kindergartengruppe. – und auch wenn es an Trauschein und Steuerklasse mangelte, war es in meinem Herzen durchaus rechtskräftig.
Wir waren damals fast sechs Jahre alt, kannten uns also schon seit einer Ewigkeit und standen kurz vor dem Absprung in die Grundschulzeit, die uns für immer voneinander trennen würde.
Während ich nämlich dazu verdammt war, in die Katholische Knabenschule zu wechseln, drohte meiner herzallerliebsten Simone eine freudlose Zukunft ohne meine Gegenwart in der
Katholischen Mädchenschule unseres Heimatortes.
Ja, wir waren Seelenverwandte, denn sie hatte, so wie ich, kurzgeschnittenes blondes Haar und trug, so wie ich, stets ein rot/weiß kariertes Hemd unter einer krachledernen kurzen Hose mit Hosenträgern und Hirschhornknöpfen. Wir besaßen auch beide eines dieser kleinen braunen Umhängetäschchen mit Wurststullen, die unsere Mütter jeden Morgen für uns schmierten, und die wir uns mit zärtlichen Blicken gegenseitig in den Mund schoben.
Ich malte für sie Bilder, auf denen wie beide uns als Strichmännchen an den Händen hielten und sie buk für mich wunderbare Spielsandkuchen. Ich klebte ihre Martinsfackel zusammen und sie mir dafür ihre Origami-Figürchen in mein Kindergartenalbum. Wenn unsere Gruppe zum Spielplatz in unseren Stadtpark wanderte, war sie genauso an meiner Seite wie in meiner dunkelsten Stunde, als mir Schwester Agatha, unsere Kindergartenleiterin, meinen blutenden Finger wusch und sich darüber amüsierte, dass die Ursache hierfür eine dieser kleinen jugendlichen Warzen war, die ich mir aufgekratzt hatte. Als sie mir zum Trost ein martialisch anmutendes Bild mit einer blutüberströmten Hand schenkte, baute ich ihr aus lauter Dank dafür eine Sandburg, wie sie die Welt noch nie zuvor gesehen hatte.
Unsere Beziehung bestand über lange Zeit hinweg aus einem innigen Geben und Nehmen, aber einmal auch aus einem tragischen Missverständnis. Nachdem sie mir nämlich eines Tages mit einer Handvoll frisch gerupfter Gänseblümchen eine Freude bereitet hatte, fügte ich ihr unbeabsichtigt großes Leid zu, indem ich sie bat, ihre Augen zu schließen, um dann einen gerade ausgebuddelten und munter zappelnden Regenwurm in ihre kleine Handfläche zu legen. Für diese, meine Art, der Dankesbekundung hatten weder die kleine Simone noch die durch ihr Geschrei herbeigeeilte Schwester Agatha Verständnis. So war es nun an mir, meiner Freundin beim Händewaschen beizustehen.
Zusammengefasst besagte die folgende Standpauke unserer leitenden Klosterfrau, dass man mit Gottes Geschöpfen nicht zu spielen hatte, da man ihnen dadurch großes Ungemach bereiten würde. Außerdem könnte ich mir aufgrund solcher Missetaten posthum einen längeren Aufenthalt im Fegefeuer einhandeln. Fürs Erste würde der Belzebub jedoch ein Auge zudrücken, wenn ich mich bei meiner kleinen Spielgefährtin entschuldigen würde.
Eigentlich gewann ich durch diese apokalyptische Vision nur ein weiteres Mal den Eindruck, dass sich den Damen in meiner Umgebung die mit Insekten und Kriechtieren verbundenen Möglichkeiten der Freizeitbeschäftigung nicht vollständig erschließen. Widerwillig machte ich mich wie König Heinrich der IV. auf den Weg nach Canossa und bat die kleine Simone um Verzeihung. Ich legte sogar noch eine Schippe drauf, indem ich ihr versprach, sie eines Tages zu heiraten, um sie vor anderen Tierquälern und sonstigem mörderischen Gesindel zu beschützen. Daraufhin bedankte sie sich artig für mein Interesse und versprach, mein Angebot gemeinsam mit ihren Eltern wohlwollend zu prüfen.
Am nächsten Tag eröffnete sie mir, dass sie und ihre Eltern im Grunde genommen nichts gegen meinen Antrag einzuwenden hätten. Wir sollten jedoch für den Moment die Füße stillhalten und uns zunächst um unsere schulischen und danach um unsere beruflichen Belange kümmern. Sie war halt weise, warmherzig, vorausschauend und unendlich geduldig.
Letzteres wurde mir klar, als wir bei unserer Abschiedsfeier als Bauer und Bäuerin verkleidet das Lied »Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt« vortragen sollten. Obwohl ich fast meinen gesamten Text vergessen hatte, hielt sie weiterhin freundlich lächelnd meine Hand und sang tapfer bis zum Schluss alleine weiter.
In der Tat verlor ich meine kleine Simone alsbald aus den Augen. Das lag aber nicht am Schulwechsel, sondern daran, dass sie mit ihren Eltern in eine andere Stadt zog.
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