Ich stand mit einem Verkäufer in der Gartenabteilung meines Baumarktes und ließ mir gerade die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Motorsensen erklären, als unser Gespräch durch ein demonstratives Hüsteln unterbrochen wurde. Reflexartig drehte ich mich um und schaute in das Gesicht des wiederauferstandenen russischen Revolutionsführers Wladimir Iljitsch Lenin.
Und der kleine Mann, der da vor mir stand, hatte nicht nur den Knebelbart und die stechenden Augen des legendären Kommunisten. Mit seiner Schlägermütze, dem karierten Flanellhemd und der braunen Latzhose über den schwarzen Birkenstock Clocs lieferte er das perfekte Bild eines wackeren Helden des Klassenkampfes ab.
Nachdem er den Kopf in seinen Nacken gelegt hatte, blickte er gebieterisch in die Runde. Dann verkündete er mit blitzenden Augen sein Anliegen. »Ich habe nurr mal eben eine kurrze Frrage - häh.«
Wäre diese Bemerkung von Rotkäppchen gekommen, hätte ich sie wie die freundliche Bitte um gelegentliche Beachtung abgetan. Aus dem kleinen Herrn vor uns schien jedoch der böse Wolf zu sprechen, denn der Tonfall seiner Stimme erinnerte mich an den denkwürdigen Satz:
»Seit Fünfuhrrfünfundvierrzig wirrd zurrückgeschossen.«
Nach seinem Spruch drängte er sich energisch zwischen mich und den Verkäufer. In mir löste sein Verhalten die Befürchtung aus, dass das Schicksal der Wiedergeburt gleich zwei bösartige Bartträger der jüngeren Geschichte fusioniert haben könnte.
Ich fragte nach. »Entschuldigen Sie bitte. Besitzen Sie eine Schäferhündin oder sind Sie vielleicht Vegetarier?«
Er zuckte zusammen. »Nein. Wie kommen Sie darrauf. Ich habe doch nurr eine kurrze Frrage. Halten Sie sich da rraus - häh!«
So weit, so gut. Anscheinend hatte sich die Seele unseres deutschen Oberlippenbärtchens anderswo hin verkrümelt. Vielleicht in ein Erdmännchen oder in einen Brüllaffen – Wer weiß?
Dann war das rollende »R« unseres Baumarktbolschewisten wohl seiner osteuropäischen Herkunft Herkunft geschuldet. Seine Reaktion hatte mir gezeigt, dass hier ein autoritärer Bürgerschreck nach sofortiger und uneingeschränkter Aufmerksamkeit verlangte. Seinem Naturell entsprechend hätte er seine Anweisungen wohl am liebsten im Ton eines Feldherrn erteilt.
»He, Sie – Lakai! Was derr Wicht will, mit dem Sie da plauderrn, ist mirr einerlei. Ich will hierr nicht wie ein unnützerr Narr herrumstehen. Von daherr errwarrte ich von Ihnen, dass Sie sich auf derr Stelle um meine Interressen kümmerrn - häh.«
Der Verkäufer zeigte Zivilcourage. »Sie sehen doch, dass ich im Gespräch bin. Würden sie sich bitte einen Moment gedulden. Ich bin gleich für sie da.«
Um Himmels willen, wovon redete er da? Solche Menschen um Geduld zu bitten ist doch das Gleiche, als würde man ein hungrigen Löwen auffordern, mit Messer und Gabel zu essen.
Unbeeindruckt von der Bitte um Beachtung der Etikette und meiner Person polterte der Störenfried drauflos. »Wissen Sie, ich habe im verrgangenen Monat in Ihrrem Baumarrkt eine von Ihrren Filterranlagen gekauft. Trrotzdem ist das Wasserr in meinem Garrtenteich noch immer völlig grrün. Wie errklerren Sie sich das - häh?«
Da sein Rechtfertigungszwang stärker als sein Sinn für Gerechtigkeit war, begann der Widerstand des Mitarbeiters zu bröckeln. »Ich verstehe. Ich kümmere mich noch kurz um diesen Herrn und bin danach sofort bei Ihnen.«
»Das geht nicht. Rrufen Sie mirr soforrt jemand anderren, denn ich bin in Eile - häh!«
Ich entwickelte Verständnis für seinen Stress. Bestimmt war er noch zum russischen Roulette mit einigen pensionierten Partisanen verabredet – und die praktizieren schon einmal gerne die tschetschenische Luftröhreneröffnung bei fahnenflüchtigen Spielkameraden.
Die Servicekraft wurde unterwürfig. »Das kann ich nicht. Im Moment bin ich hier alleine, aber bei diesem Kunden dauert es bestimmt nicht mehr lange, versprochen.«
Ich dachte in diesem Moment nur: »Aber bitte, gerne.«
Einmal mehr sollte ich das Bauernopfer sein - wie in meiner Kindheit, als das einzige Stück meines Lieblingskuchens auf dem Tortentablett immer an meine cholerische Tante ging, damit sie keine Kuchenschlacht anzettelte. Dabei hieß es stets: »Der Klügere gibt nach.« Diese fatale Botschaft unserer Eltern hinderte mich - und wahrscheinlich auch den Mitarbeiter - jetzt daran, diesen Soziopathen zurück in seine Unterwelt oder zumindest aus dem Baumarkt zu befördern. Er legte seinerseits sogar noch eine Schippe drauf. »Das gibt’s doch nicht« krähte er lautstark. »An solch einem Tag wie heute ganz alleine und ich muss mirr hierr die Beine in den Bauch stehen. Man hat ja noch was anderres zu tun. Werr ist denn hierr derr Verrantwortliche - häh?«
Ich war fasziniert und dachte: »So muss sich Wladimir Iljitsch Lenin angehört haben, als er die
Oktoberrevolution anführte.«
Aber was hatte er bloß mit »An solch einem Tag wie heute« gemeint? Eigentlich war es doch ein ganz normaler Dienstag im Mai - oder etwa nicht? Vielleicht war ja heute der Geburtstag eines seiner berühmten Idole. Aber Nein. Lenin, Hitler und Saddam Hussein waren im April geboren worden. Benito Mussolini und Julius Caesar hatten im Juli das Licht der Welt erblickt und Nero und Stalin im Dezember. Bliebe noch Dschingis Khan. Der hatte zwar im Mai Geburtstag, aber erst am Einunddreißigsten und bis dahin dauerte es noch ein paar Tage.
Vielleicht ging es dem kleinen Despoten ja darum, der UNO einen guten Grund für die Einführung eines »Welttyranneitages« zu liefern. An diesem Dienstag im Mai sah es jedenfalls recht vielversprechend für ihn aus.
Der Mann im roten Baumarkt-Polohemd bewahrte überraschend Haltung. »Der Verantwortliche bin ich.«
»Dann haben sie wohl ihrre Leute nicht im Grriff, oderr was? Ich will soforrt mit dem Geschäftsführrerr rreden – häh!«
Lenin war an einem Schlaganfall gestorben und auch sein herrschsüchtiges Double zeigte gerade die Symptome einer Blutdruckkrise mit der Aussicht auf eine prächtige Gehirnexplosion. Ich konstatierte - so sieht wohl der Preis der Weltherrschaft für machtbesessene Kriechtiere aus.
Da ich kein Interesse an einem völlig überflüssigen Teichrosenkrieg hatte, folgte ich meinem Fluchtreflex und entließ den sichtlich gequält wirkenden Verkäufer mit den Worten: »Nun machen sie schon, ich komme hier alleine klar.«
Während der Rächer seines Gartentümpels mein Entgegenkommen einfach ignorierte, versprach mir der Verkäufer, in Kürze wieder zu mir zurückzukommen. Als ich dann zwanzig Minuten später die Gartenabteilung des Baumarktes verließ, sah ich ihn und mittlerweile zwei weitere Kollegen, immer noch in einen heftigen Tumult mit der »kurzen Frage« verwickelt.
Eigentlich hätte ich mich über meine neue Motorsense freuen sollen, aber ich machte mir Gedanken über das Schicksal dieses Rebellen. Vielleicht wird man ihn ja eines Tages leblos vor seiner Haustür finden.
Die Todesursache: »Herzschlag wegen Gänseblümchen auf der Garageneinfahrt«.
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