47. Altweiberdienstag in Krefeld-Hüls
Wenn mein Heimatort zu Hogwarts wurde

Es war der Altweiberdienstag in Krefeld-Hüls, 1979 – das letzte Jahr vor der Einführung des neuen Karnevalszugs. Und es war wieder einmal einer dieser Dienstage, an dem sich die Welt, wie wir sie kannten, für 24 Stunden in eine Parallelgesellschaft verwandelte: bevölkert von Hakennasen, monströsen Warzen und schielenden Monstern in Gothic-Outfits – allesamt weiblich, allesamt in Partystimmung.

Mein Heimatort war damals ein gastronomisches Imperium, ein Wallfahrtsort der Bierseligkeit, die ihren Höhepunkt jedes Jahr beim Altweibertreffen in den Hülser Gasstätten fand. Über 30 Kneipen und Säle! Jeder einzelne Tresen umstellt von Dreierreihen johlender Möhnen. Diese Frauen meinten es ernst. Einige von ihnen waren biologisch, emotional und rhetorisch seit Wochen auf diesen Tag vorbereitet. Und sie kamen zu Hunderten - nicht etwa nur aus den vier bekannten Himmelsrichtungen, sondern mindestens aus sechs. In Bussen, Bahnen und PKW. Einige flogen sogar auf ihren Besen ein und andere erschienen wie Geisterwesen, denen ihre Burg- und Schlossherren freigegeben hatten. Schlussendlich waren da noch diejenigen, die über das Gleis 9 3/4 den Zugang nach Hüls, dem Hogwarts der Zauberinnen und Hexen vom linken Niederrhein, gefunden hatten. Alle unter der Maßgabe: »Mach Party und brate dem Männervolk mal ordentlich eins über!« Die Walpurgisnacht muss hier erfunden worden sein und sie fing schon am frühen Nachmittag an. Hüls wurde zur weiblichen Version von Mordor mit der Gewissheit, dass sich hinter den hässlichsten Masken zumeist keine Orks, sondern die schönsten Frauen verbargen. Und sie waren organisiert. Geradezu militärisch. Es gab verkleidete Nähkränzchen mit mehr Struktur als manchem Stadtrat lieb sein konnte, Kegelvereine mit identischen Triefaugen, Wandergruppen mit Marschbefehl, Radfahrgemeinschaften in Neon und Strass – und, nicht zu vergessen, vereinzelte Damen-Wrestling- und Bodybuilding-Abteilungen. Zumindest ließ die Art, wie sie die Männer auf der Tanzfläche führten – oder abführten –, kaum eine andere Erklärung zu.

Natürlich waren auch Männer anwesend. Viele Männer. Ehemänner, Noch-nicht-Ehemänner, Möchtegern-Ehemänner und solche, die dringend überprüfen wollten, ob ihr Marktwert noch über dem von Dosenbier lag. Sie trugen Spendierhosen – meist schlecht gebügelt –, um sich die Gunst der Möhnenschar mit Korn, Küsschen oder Körperkontakt zu erkaufen. Manche standen einfach nur da und hofften, nicht als Beute erkannt zu werden. Spoiler: Es gelang fast keinem.

Ich allerdings hatte andere Pläne.

Ich lag erkältet im Bett, trank Hustensaft (geschmacklich irgendwo zwischen Lösungsmittel und Waldmeisterpudding) und wartete auf mein Immunsystem.

Meine Freundin Rosi hingegen hatte sich mit drei weiteren jecken Damen aufgemacht, um in Hüls einen Zug durch die Gemeinde zu machen. Ein »Zug« ist dabei untertrieben. Es war eine Sturmtruppe des Frohsinns, ausgestattet mit Federboas, schwarzen Lockenperücken, Pappmasken und einem strategisch kalkulierten Sekt- Bier- und Schnapskonsum.

Ich war also krank. Allein. Und vernünftig. Bis 22:00 Uhr. Denn um diese Uhrzeit, so ist es überliefert, sprang das Karnevalsvirus durch meine Rollladenritzen. Ich stand auf. Ich war geschwächt. Ich war wacklig. Aber ich wollte dabei sein.

Ich musste sie finden – bis zur traditionellen Demaskierung um Mitternacht. Dann würde ich mit Rosi und ihren Freundinnen den Rest der Nacht über feiern. Mit Nasenspray und Wick Erkältungssalbe. So der Plan im Fieberwahn.

Kaum war ich auf der Krefelder Straße, traf mich der jecke Tornado mit voller Breitseite: Ganz Hüls war ein brodelnder Hexenkessel – im wahrsten Sinne des Wortes. Überall Frauen, vermummt, verkleidet, verrückt.

Ich kämpfte mich vor – entlang des klassischen Kneipenparcours, der schon in der Römerzeit als besonders gefährlich galt. So soll der große Feldherr Publius Quinctilius Varus im Jahre 9 n. Chr. an der Ecke Jerusalemstraße seine Rüstung versoffen haben. Man munkelt allerdings, die abtrünnigen Orbroicher Kappes-Germanen hätten ihm eine neue gedengelt. Der Heimatverein weiß mehr.

Etappe 1:

Schützenhof → Nabbefeld → Alte Vier → Neikes → Klings → Hülser Markt.

Im »Schützenhof« schmetterten 80 Damen den »Humba-Humba-Täterä-Song«, begleitet von einer Triangel und einer Balalaika.

Bei »Nabbefeld« drückte mir jemand ungefragt ein Sektglas in die Hand – und eine Pritsche in den Bauch.

»Rosi?«, fragte ich.

»Nur, wenn Du auf dem Tisch für uns tanzt – in Unterhosen!«, flötete sie mir entgegen.

Erschrocken rannte ich davon – oder taumelte, das ist Auslegungssache.

Bei der »Alten Vier« war der Eingang versperrt durch eine Polonaise, die sich in sich selbst verknotet hatte. Die Freiwillige Feuerwehr feierte in der Gaststätte Schmitter. Also wurde über einen Befreiungsversuch durch die GSG 9 debattiert.

Gaststätte »Klings« - krachend voll, aber eher gediegen. Hier hatte sich die Ü70-Generation verschanzt – vielleicht aber auch die lustigen Weiber von Schloss Windsor. Jedenfalls »Very British!«

In der Gaststätte »Neikes« sah ich meinen Freund Bernd, den alten Kinogänger in: »Der mit dem Rolf tanzt«. Eigentlich spinnefeind die Beiden, nun aber hackedicht.

Dann – endlich – Hülser Markt. Ich schnappte nach Luft. Aber: keine Rosi.

Etappe 2:

Die berühmt berüchtigte Hülser Marktschleife.

Ich betrat der Reihe nach:

Santa Lucia → Reitz → Schmitter → Wahlen.

An der Theke von »Santa Lucia« wurde ich von einer bleichen Möhne in altmodischem Brokat-Kleid und Ordensschärpe festgehalten. Von einem seltsamen Schimmer umgeben.

»Rosi?“, fragte ich.

»Ich bin die Katharina von der Hülser Burg, aber ich höre auf alles«, kicherte sie. Dann löste sie sich in Luft auf. War etwa schon Geisterstunde? Ich ließ zur Sicherheit ein Glas Sekt für sie da und schlich mich davon.

Bei »Reitz« stand eine uralte Wahrsagerin in der dritten Thekenreihe mit zwei Schnapsgläsern in der Hand. Blutunterlaufene Pappaugen, riesiger Wackelzahn. Sie lallte: »Gib mir einen aus oder Du wirst Deine Rosi niemals wiedersehen?« Mir fuhr der Schreck in die Glieder. Wie sich später herausstellte, war es meine eifersüchtige Ex-Freundin Petra.

»Gaststätte Schmitter«. Zum Bersten voll wegen der Freiwilligen Feuerwehr. Ich dachte: »Wo kein Durchkommen, da keine Rosi.« Ein schwacher Trost.

Dann kam »Haus Wahlen«.

Vor der Tür stand, wie in jedem Jahr, der Wirt, »Wahle Pitt«. Der Parka spannte sich über seiner Brust wie ein Schiffsbug. Die Miene: granitartig.

Ich sagte: »Ich suche meine Freundin.«

Kurzes Schnauben, dann die Absage: »Du komms hier nich rein!«

Es gab keine Diskussion. Es war Gesetz.

So wurde »Wahle Pitt« an diesem Abend unabsichtlich zum Erfinder des Türstehens. Und sein legendärer Satz später von Kaya Yanar gecovert – sagt man!

Etappe 3:

Die Hülser Nord-Gerade

Zum Goldenen Hirsch →Heinrichstift → Gaststätte Staebel → Tandem → Piccadilly → Alt Hüls → Tivoli Haus → Hoerschgens → Hüls Nord.

Ich stolperte weiter – inzwischen vollends im Fieberwahn:

Im »Goldenen Hirsch« schunkelte die Hülser Karnevalsgesellschaft »Nette Stölle Jonges« mit dem katholischen Pole-Dance-Zirkel »Frivole Laute Weiber« aus Bad Lassknuddeln – oder so ähnlich. Gegensätze ziehen sich bekanntlich an.

Im »Tandem« bat mich eine »Alte« zum Tango – sie hieß auch Rosi und wollte mit mir nachhause gehen. Mich überkam das Gefühl, dass dabei Geld eine Rolle spielen könnte. »Danke nochmal an die Spider Murphy Gang für die Warnung!«

In der »Diskothek Piccadilly« stolperte ich über eine Hollywood-Hexe, die mit ihrem spitzen Hut aussah und roch, als wäre Elphaba aus »Wicked« beim Rückwärtsgehen in einen Bottich Chanel Nr. 5 gestürzt.

Sie begrüßte mich mit einem lauten: »Alaaf, minge Prinz!«

Ich, total erbost: »Das heißt »Breetlook«. Das einzige, was hier Kölsch ist, ist das 4711 - Eau de Toilette der Kellnerin.«

In »Alt Hüls« fragte ich zum dritten Mal eine mir bekannt vorkommende Möhne: »Rosi?«

Die Antwort: »Nein. Ich bin’s, Günther!«

Ich taumelte rückwärts.

Dann: Tivoli Haus → Hoerschgens → Hüls Nord.

Im Haus-Tivoli sang eine bunt gekleidete Frauenformation »Griechischer Wein« mit türkischem Akzent. War das schon Integration oder noch Halluzination. Ich war zutiefst gerührt.

Nirgends Rosi. Vielleicht war sie ja da, aber ich sah aus wie eine Tasse Milch mit roten Kirsch-Sprenkeln. Wie hätte sie mich erkennen sollen?

Etappe 4:

Die Seitengassen des Wahnsinns.

Ich wollte nachhause. Mit letzter Kraft schleppte ich mich rückwärts durch die Gastronomie der Nebenstraßen:

Angenvoorth → Schlüter → Brucks → Alte Post → Poplutz → Schmitz → Gehlen.

Jede Kneipe – voll bis unters Dach.

Ich wurde siebenmal umarmt, zehnmal gefragt, ob ich einen »Kurzen« will, musste viermal schunkeln, und wurde schlussendlich auf einer Couch aufgebahrt.

Ich war am Ende.

Die Offenbarung um Mitternacht.

Kurz vor zwölf – ich war innerlich verdampft – spürte ich eine Hand auf meiner Schulter.

»Wolfgang?«

Die Stimme war seltsam vertraut, aber verzerrt – wie durch einen Wollschal gesprochen.

»Ich dachte, du liegst mit Erkältung im Bett?«

Ich drehte mich. Eine Maskierte. Ein Hauch von Hustenbonbons. Ein Lächeln.

Ich stammelte: »Rosi?«

Ich sank ihr in die Arme. Ich hatte es geschafft. Ich war angekommen.

Und dann: Mitternacht. Demaskierung. Sie nahm die Maske ab. Es war – meine Mutter, und ich war - zuhause.

Epilog: Die Moral von Hüls

Ich lernte an diesem Abend zweierlei:

1. Wer zu Altweiberfesten geht, sollte vorher prüfen, ob er ein Virus hat.

2. Und wenn »Wahle Pitt« sagte: »Du komms hier nich rein«, dann war das keine Ablehnung. Es war Fürsorge.

 


 

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