16. Über das Reborn-Baby-Phänomen
Ein Märchen aus Vinyl und Gefühl

Die Geschichte passierte an einem der letzten Tage unseres Aufenthalts bei guten Freunden in São Paulo. Bei strahlendem Wetter hatten wir uns mit Lucia und David – einem bekannten Ehepaar – zu einem Spaziergang im nahegelegenen Park verabredet. Während wir entspannt durch die baumbestandenen Wege flanierten, stießen wir auf eine große Gruppe von Müttern, die sich zu einem Picknick auf einer Wiese getroffen hatten. Sie saßen plaudernd auf bunt gemusterten Decken – allesamt umgeben von Säuglingen in beinahe überirdisch sauberer und niedlicher Babykleidung. Im Schatten eines Palmenhaines hörten wir Gurrlaute, liebevolles »Gugu-Gaga« und sahen Windeltäschchen, Stilltücher und bunte Kinderwagen. 

Der Altersdurchschnitt der Mütter schien eine erstaunliche Spannweite zu haben: Manche wirkten, als hätten sie ihr erstes Kind kurz nach der Rente bekommen, andere eher, als seien sie selbst gerade erst der Teenagerzeit entkommen. Während sie ihre Sprösslinge gegenseitig streichelten und liebkosten fiel uns auf, dass eine merkwürdige Stille über der Szenerie lag - kein nasser Windel-Alarm, kein missmutiges Babygebrülle – einfach nur Grabesruhe. Babys machen Müttern Stress und deshalb platzt der ein oder anderen auch schon mal der Kragen. Aber die hier Versammelten, einschließlich ihres Nachwuchses, wirkten, als hätten sie kollektiv Baldriantropfen mit Lachgas geschnüffelt. Diese Friedfertigkeit war so unnatürlich, dass selbst erfahrene Mönche eines Schweigeordens neidisch Reißaus genommen hätten. 

Unsere Bekannten und wir – kampferprobte Eltern von insgesamt sieben erwachsenen Kindern - sahen uns ungläubig, ja furchtsam an. Führte der wiedergeborene Dr. Frankenstein hier ein wissenschaftliches Experiment durch oder handelte es sich etwa um eine neuartige Sekte aggressionsbefreiter Eltern- Zombies? 

Vorsichtig schauten wir in einen der Kinderwagen - und da lag es: ein neugeborenes Mädchen mit Porzellanhaut, Wimpernextensions de Luxe und einem Blick, der einerseits rührte und andererseits an »Chuky, die Mörderpuppe« erinnerte. Atmen - wozu? Atmen und Herzschlag werden von uns Durchschnittsmenschen überbewertet. Dafür besaß dieses Kind sicher schon ein Instagram‑Konto mit mehr Followern als Christiano Ronaldo.

Willkommen im Paralleluniversum der Reborn-Babys – superrealistische Silikon‑Sprösslinge für Erwachsene mit gigantischem Kuschelbedarf und minimaler Geduldspanne.

Auf karierten Decken und zwischen veganen Babybreigläschen aus der eigenen Reborn-Manufaktur tauschte man sich hier über das aus, was wirklich zählt: den unbedingten Willen, Mutter zu sein – unabhängig von Biologie und Realität.

David ist ein bekannter Kinderarzt in São Paulo und eine der Mütter hatte seine Anwesenheit bemerkt. Die Mittvierzigerin trat mit ihrem täuschend echt aussehenden Reborn-Jungen an uns heran und sprach ihn mit besorgtem Blick an. »Boa tarde Doutor. Gut dass ich Dich treffe. Mein Ricardo-Michelangelo hat schon seit ein paar Tagen Bauchweh. Ich habe ihm warme Umschläge bereitet und sogar den Wecker auf 3 Uhr nachts gestellt, um ihm warme Milch zu geben, aber es hilft nichts wirklich.«

David reagierte mit der Routine eines Mannes, der schon vieles gesehen hat und den eigentlich nichts mehr aus der Bahn wirft. »Weißt Du, ich beschäftige mich mit menschlichen Kindern. Deren Müttern würde ich jetzt sagen, dass ein sechs Monate alter Säugling schon mal leichte Koliken haben darf. Mit leblosen Puppen kenne ich mich nicht so aus, und außerdem scheinst Du ein psychisches Problem zu haben.«

Daraufhin zog die »Mutter« eilig ihr Handy aus der Gucci-Tasche. Dann fingerte sie auf ihrem Touchscreen herum und mit einem Mal schlug Ricardo-Michelangelo via Bluetooth so schön wie Kleopatra die Augen auf.

»Willst Du etwa behaupten, dass ein Baby, dass so schön zwinkern kann, keine ärztliche Hilfe bekommen darf? Er hat doch nur aus lauter Erschöpfung geschlafen.«

In diesem Moment kippte beim Säuglings-Yoga nebenan Baby João-Luiz während der Übung »Herzöffner im Sonnenschein« vornüber und knallte mit dem Vinylschädel auf die Yogamatte. Es entstand zwar kein Sachschaden, aber trotzdem weinten einige Teilnehmerinnen.

Meine Frau und ich blickten in Richtung des Geschehens und entdeckten dabei einen Silikon-Wesen, das gestillt wurde, als hätte es einen Magen und eine Meinung. Gleich nebenan legte eine Endfünfzigerin ihr frisch lackiertes Reborn-Zwillingspärchen Nova & Sol in ihre Designerwiege aus recyceltem  norwegischem Fjordholz und flüsterte: »Danke, dass ihr mir gezeigt habt, was echte Mutterschaft bedeutet.«

Wir Zaungäste sahen uns an wie Kinozuschauer in der ersten Reihe, denen gerade klar wird: »Falscher Saal, falscher Film. Wo ist der nächste Ausgang?«

David erinnerte sich derweil an seine ärztliche Verantwortung und wandte sich wieder der erbosten Mama zu. »Ich denke, Ihr alle hier brauchen ärztliche Hilfe. Euer Verhalten ist alles andere als normal.«

Eine Seelenverwandte eilte ihr zu Hilfe. »Lili, Lass ihn! Er ist genau so ein Ignorant wie alle anderen. Ich habe letzten Monat meinem Chef gesagt, dass ich auch ein Recht auf 

Mutterschutzzeit habe. Daraufhin hat er mich einfach ausgelacht und mir mit Rauswurf gedroht. Daraufhin habe ich ihn angezeigt. Wenn nötig, werde ich auch auf einen Creche (KiTa)-Platz klagen.« Während sie derart lamentierte, legte sie ein Stofftuch über ihr Baby Isabella-Aurelia, weil die Kleine doch keine Sonne auf dem Scheitel verträgt.

Die um Ausgleich bemühte Mutter von Laura-Luana versuchte, die Wogen zu glätten. »Ich war auch erst skeptisch. Dann habe ich gesehen, wie mein Reborn mich nicht anschrie, sich nicht übergab und keine Trotzphase hatte. Da wusste ich: Das ist wahre Liebe.«

Die Frauen erzählten von ihrem Alltag mit Silikonkindern, von gesellschaftlicher Ausgrenzung »Krankenversicherung nur für biologische Lebensformen«, von Unverständnis »Die Hebamme hat einfach den Raum verlassen« und von mutigen Aktionen wie dieser: 

Bei der Kindermodenschau eines Familienzentrums gewann Maria Eduarda den Preis für das hübscheste Baby-Outfit. Als der Moderator sie hochheben wollte, bemerkte er die schlabbrige Muskulatur und die recht niedrige Körpertemperatur. »Äh - Emilia - Dein Kind…«
»…ist pflegeleicht, ich weiß«, antwortete die stolze Mama trotzig,
Das Publikum raunte. Handy‑Kameras zoomten heran. Und da, im Scheinwerferlicht, glänzte Maria Eduardas Stirn einen Tick zu doll. Daraufhin rief ein Kind: »Die schwitzt ja Plastik.«
Panik? Nein, keine Spur. Señora Emilia hob ihr Reborn-Baby wie Simba auf dem Königsfelsen. »Ja, sie ist aus Vinyl!« verkündete sie. »Und wisst ihr was? Sie weint nicht, sie kostet kein Schulgeld, und sie wird nie, niemals Drogen zu sich nehmen.«

Daraufhin wurden erste Stimmen laut: »Wo kann man die bestellen?«

Eine Woche später hatte das Familienzentrum eine Reborn‑Ecke samt Lade­station für Bluetooth‑Updates wie das Blähbauchgeräusch  »Broccoli-Pups« oder »Lächeln in Full-HD«. Und anstelle von Geburtsurkunden druckt das Zentrum jetzt Rechnungskopien auf echtes Urkundenpapier.
Zwischen glutenfreien Dinkelhörnchen, Hirse-Crackern und Mandelmilchlatte machten sie sich gegenseitig Mut: »Liebe braucht keine Nabelschnur. Wir Reborn-Mütter sind bereit, zu leiden. Für unsere Babys. Für unsere Überzeugung und für Gleichberechtigung. Für das Recht, in Kliniken und Praxen von Ärzten wie David ernstgenommen zu werden. Denn wir sind wie biologische Mütter – bloß ohne die lästigen Nebeneffekte wie echte Erziehung und - nun ja - Kinder.

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