44. Das Wurmloch von Hüls
Ein interkommunales Raum-Zeit-Phänomen mit Gutachterbericht

Bei meinem letzten Besuch in meinem Heimatort Hüls stellte ich fest, dass die lokalen Schlaglöcher nicht einfach bloße Unebenheiten sind, sondern über die Jahre hinweg längst zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aufgestiegen sind.

Da wäre zum Beispiel die Kuhle der Verdammnis, an der Kreuzung Kempener Straße / Christian-Roosen-Platz. Sie ist eine ehrwürdige alte Dame. Schon mein Großvater soll sie umfahren haben, damals noch mit dem Dreirad. Die Stadtverwaltung überlegt, sie unter Denkmalschutz zu stellen. Schließlich gibt es alte Bäume, die weniger Geschichte gesehen haben.

Weiter südlich trifft man auf ihren Vetter Donnergrube. Er verdankt seinen Namen der Tatsache, dass selbst SUVs mit Stoßdämpfern aus dem Rallye Paris-Dakar-Regal einen mächtigen Knall produzieren, wenn sie hindurch fahren. Eine junge Familie soll dort einst in einem Renault Twingo verschwunden sein – nur der Dachgepäckträger ragt noch aus dem Asphalt wie das Mastkreuz eines versunkenen Wracks.

Besonders beliebt bei Radfahrern – im Sinne einer Mountain-Bike-Disziplin für Fortgeschrittene – ist Madame Mulde, die sich direkt vor dem Straßenbahndepot positioniert hat. Sie ist berüchtigt für ihre elegante U-Form mit Doppelbumms-Effekt, der jeden Magen spontan in einen Entsafter verwandelt.

Natürlich versuchte ich, der Sache mit journalistischer Ernsthaftigkeit auf den Grund zu gehen. Ich rief beim städtischen Tiefbauamt – einer Behörde von unerschütterlichem Fortschrittsglauben - an. Dort erklärte man mir mit der Poesie einer Wahrsagerin aus 1001-Nacht: »Ach, die Löcher? Die sind Teil unseres urbanen Biodiversitätsprogramms. Manche Krötenarten brauchen das.«

Verzückt wegen dieser ökologischen Tiefe (im wörtlichen Sinne), stellte ich weitere Nachforschungen an. Offenbar gibt es mittlerweile einen Bürgerverein, der regelmäßig Patenschaften für besonders charmante Exemplare übernimmt. Jeden vierten Sonntag im Monat treffen sich engagierte Hülser zur »Tour de Rumms«, einer Fahrradrallye, bei der es um die Ermittlung des Schlaglochs des Monats geht. Die letzten Gewinner waren: »Plattmacher-Paul, Tiefpunkt-Tina, die Senkgrube der Sorgen und – das Bermuda-Dreieck auf der Krefelder Straße«.

Dieses Krater trägt seinen Namen aus einem besonderen Grund:

Es begann an einem ganz normalen Mittwochmorgen, irgendwo zwischen dem dritten Kaffee und dem elften Schlagloch auf der Hülser Straße. Herr Hempel, ein Krefelder Busfahrer mit guter Laune und Rückenproblemen, lenkte seinen Linienbus in Richtung Hülser Markt, als er plötzlich verschwand. Vollständig. Bus, Passagiere, Pausenbrote – einfach weg. Zurück blieb nur ein dumpfes Echo und eine Höhle von erschütternder Tiefe. Die Freiwillige Feuerwehr erschien, schüttelte ihre Helme, murmelte »nicht unser Fachgebiet« und rief das Ordnungsamt. Das wiederum rief die Astrophysiker von der Universität Duisburg-Essen.

Schon kurz darauf rückten drei Männer in Cordhosen und mit Spezialgeräten an. Einer stellte sich vor als Professor Dr. Boltzmann-Meyer, Experte für urbane Anomalien im Raum-Zeit-Kontinuum.

Er warf einen Blick in das Loch, zog eine Stirnfalte – und sagte dann mit ernster Stimme:

»Meine Herren, ich glaube, wir stehen hier vor einem Wurmloch nach Viersen.«

Man starrte ihn an.

»Viersen?« fragte der eilig herbeigerufene Oberbürgermeister, der aus Sicherheitsgründen nur in einer Sänfte durch seine Stadt befördert wurde.

»Exakt. Das Loch ist ein interdimensionaler Tunnel, der den Straßenbau der Gegenwart mit dem Zustand der Viersener Infrastruktur von 1987 verbindet. Eine Art kommunale Zeitreise.«

Der Professor holte ein Messgerät hervor, das leise piepste, wenn man es gegen Pflastersteine hielt.

»Es ist eindeutig. Hier unten krümmt sich nicht nur die Raum-Zeit, sondern auch der gesunde Menschenverstand.«

Ein Praktikant für Kosmologie ließ eine Kamera mit einer Bratenschnur hinab. Auf den Aufnahmen sah man:

– ein Ortsschild mit der Aufschrift »Viersen – Bitte langsam denken«

– einen verlorenen Fahrradhelm

– zwei Maulwürfe, die sich als Tunnelverwalter aufspielten

Der Gutachterbericht, später veröffentlicht in der »Zeitschrift für unerklärliche kommunale Phänomene« - für gewöhnlich mit seitenlangen Berichten über bürokratische Absonderlichkeiten beschäftigt - bestätigte:

»Das Hülser Wurmloch öffnet sich regelmäßig bei Regen, hoher Verkehrsbelastung oder wenn jemand das Wort »Sanierung« laut ausspricht. Es speit Busse, Politiker und gelegentlich Schulklassen nach Viersen aus. Eine Rückkehr ist unregelmäßig, aber statistisch belegt – sofern man keine Eile hat.«

Der Oberbürgermeister beschloss, nach einer spontan angeordneten Sitzung des Stadtrates, das Wurmloch zu sichern – mit drei Pylonen und einem handgeschriebenen Zettel: »Bitte nicht betreten. Wissenschaftliches Loch.« Eine Maßnahme, die ihm die Wiederwahl sichern dürfte.

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