35. Ich bin ein schlechter Vater
Wenn man der Erwartung der modernen Gesellschaft nicht mehr entspricht

Anfang März dieses Jahres hatte ich das Glück, mit meiner Ehefrau am Karneval in São Paulo teilzunehmen. Dieser steht dem Karneval in Rio in nichts nach und ich war überwältigt von der ausgelassenen Stimmung. In Anbetracht der fantasievollen und farbenprächtigen Kostüme erinnerte ich mich unvermittelt an einen trostlosen Elternabend in der Grundschule meiner Tochter. Zur Debatte stand die Investition für die Kostümierung unserer Kinder für den anstehenden örtlichen Karnevalszug. Die meisten Eltern waren nicht bereit, einen größeren Betrag aufzuwenden, und so einigten wir uns auf die Summe von 5 Euro pro Kind, von denen allerdings 2,50 Euro auf die Zugversicherung entfielen. 

Weil einige verbohrte Jecken - so wie ich - sich nicht vorstellen wollten, ihre Kinder in schwarzen Müllsäcken mit gelben Smileys durch die Straßen ziehen zu lassen, wurde widerwillig der Beschluss gefasst, die Kinder in weißen Einmaloveralls mit aufgeklebten schwarzen Smileys durch die Straßen ziehen zu lassen. 

Schlussendlich sah die Klasse meiner Tochter im Karnevalszug so lustig aus wie eine Horde Tatortreiniger der örtlichen Kriminalpolizei. Weil ich es gerne schöner gemacht hätte, sonnte ich mich das kommende Jahr über in dem Gefühl, der bessere Vater zu sein. Dann kam die Ernüchterung. 

Die weiterführende Schule meiner Tochter hatte zum Projekt »Übernachtung im Klassenraum« aufgefordert. Als ich mit ihr, einem Schlafsack, einem kleinen Kopfkissen und einer Luftmatratze anrückte, wurde mir schnell klar, dass ich ein schlechter Vater sein musste.

Bei unserer Ankunft gerieten gerade verantwortungsvollere Eltern, als ich es war, in Aufregung: Ihre 1,40 x 2,00 Meter großen Luftbetten – inklusive vollständigem Bettzeug und Kuscheltierarmee – ließen sich nicht aufpumpen. Für die notwendige Komfortzone ihrer Kinder fehlte es in der Klasse nicht nur an Platz, sondern auch an genügend Steckdosen für die elektrischen Luftpumpen. Mit meiner Tochter, einer 12,50-Euro-Badematratze aus dem Baumarkt und ohne ein einziges Kuscheltier an unserer Seite, fühlte ich mich angesichts dieser Schlaflandschaften aus Tausendundeiner Nacht wie ein Wandersmann mit Jutebeutel beim Maskenball der Maharadschas – und hätte mich am liebsten auf einem Perserteppich fliegend absentiert. Dieser Faux-Pas sollte in meiner langen Laufbahn als spätberufener Vater nicht der einzige bleiben. So hatte ich bei der Fahrradprüfung eines meiner Söhne zwar einen Fahrradhelm dabei, doch fehlten die lebensrettenden Ellenbogen- und Knieschützer - jene modische Rüstung, die bei jüngeren Eltern längst zur Pflichtausstattung zählen. Ein unverzeihlicher Akt elterlicher Fahrlässigkeit! Und während ernährungsbewusstere Eltern das Pausenbrot ihrer Sprösslinge schon glutenfrei, bio, regional, saisonal, zuckerfrei, mit Dinkel-Vollkorn-Sprossen-Herzen und hübsch verpackt gestalteten, beschränkte ich mich immer noch - ganz Old School - auf Graubrot mit Wurst und Apfel in Butterbrotpapier. 

Aber man möge mir verzeihen. Ich stamme noch aus der schlampigen Zeit, in der es freitags hieß: »Montag ist Kunstunterricht - bring' ein paar Kastanien mit.«
Heute erreicht dich als Mutter oder Vater am Samstagmorgen eine WhatsApp-Nachricht der Lehrerin deiner Tochter: »Bitte bauen Sie mit Ihrem Kind bis Montag ein detailgetreues Modell des alten Roms aus nachhaltigen Materialien. Präsentation mit PowerPoint und begleitender Rap-Einlage erwünscht.«

Ja, er sitzt tief in mir, der Schock über diese Pflichtvergessenheit eines Vaters in den 2000er Jahren. Hätten solche und weitere Ereignisse nicht stattgefunden, ich würde den Kopf schütteln, wenn heute eine Mutter ihre achtjährige Tochter aus Angst, sie könnte sich verletzen, von einem 50 cm hohen Findling Stein herunterhebt oder das Laufen verbietet, weil sie ja hinfallen könnte. Ich hätte auch meine Zweifel daran, dass teure vorgefertigte und in Nullkommanix zusammengesteckte Bausätze ausreichen, um die Kreativität und die Fantasie der Heranwachsenden zu beflügeln. Und ich würde mich vielleicht darüber aufregen, dass Spielstraßen wie leergefegt von Kindern sind, weil ihre Terminkalender voll oder Computerspiele im Kinderzimmer sicherer sind als altbackener Gummitwist oder Hinkelkästchen an der frischen Luft. Bei den Geburtstagsfeiern meiner Nachkommen hatte ich noch auf Kakao und Kuchen gesetzt, während anderswo ein mobiles Delphinarium oder der russische Staatszircus zur Bespielung  der Kronprinzenschaft eingesetzt wurden. 

Zu guter Letzt muss ich damit klarkommen, dass ich meinen drei Kindern bestimmt eine einzigartige Karriere vermasselt habe, weil ich sie mit vier Jahren nur im Sportverein und nicht zusätzlich noch in der Musikschule, beim Tai Chi, im Kinderchor und bei diversen Computer- und Sprachkursen angemeldet habe. Sie hatten zu viel Freizeit, und deshalb habe ich mit ihnen aus günstigem Bauholz unter anderem ein Mäusehotel, ein Baumhaus und ein Puppentheater gebaut - und als Gipfel der Verantwortungslosigkeit eine Kanutour in der schwedischen Wildnis mit Übernachtung im Zelt und Kochen über dem Lagerfeuer unternommen. 

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