45. Begegnung auf dem Hülser Markt
Ein beinahe historisches Ereignis mit kulinarischer Verzögerung

Wir waren mal wieder in Hüls. Ein Ort, so bescheiden, aber auch so spektakulär, dass das Navi nicht mal mehr fragt, wo man hin will. Nachdem uns die gelb-blaue Sardinenbüchse von Ryanair in das Land meiner Väter (und der Reibekuchen) geschleudert hatte, wollten meine Frau und ich nur eins: gutes, solides Essen.

»Wie wär’s mit Haus Wahlen?«, fragte sie mit einem Blick, der keine Alternative zuließ.

Ich sah sie an. Diese Frau, halb Brasilien, halb Italien, ganz Temperament. Ich erwartete »Santa Lucia«, mindestens aber »Da Capo«. Stattdessen: »Ich habe Lust auf Hülser Domteller.«

»Du willst einen Domteller? Schon wieder?« Ich war verwirrt.

»Ja. Und du bestellst Dir den Friesenteller. Du bist doch hier aufgewachsen, also iss etwas Herzhaftes.«

Zehn Minuten später saßen wir in der Abendsonne vor Haus Wahlen, mit Blick auf den Marktplatz, und bestellten:

»Eine Weißweinschorle für die Senhora, ein Weizen für mich, einen Domteller und einen Original Hülser Friesenteller bitte. Ohne Experimente.«

Der Kellner nickte wissend. In Hüls wird experimentieren mit Skepsis betrachtet – es sei denn, man schwimmt in einem Freibad mit einer Sichttiefe von weniger als 1,20 m.

Ich ließ meinen Blick über den Hülser Marktplatz schweifen.

»Hier, vor Haus Wahlen,  stand mal eine Telefonzelle», murmelte ich, während sich ein melancholischer Schleier über mein Gesicht legte.

„Schon wieder Nostalgie?“ fragte meine Frau. »Letztes Mal hast du bei der Erinnerung an ein Pappmaché-Pferd auf einer Verkehrsinsel auf dem Markt Tränen der Rührung vergossen.« 

»Aber diesmal ist es ernst. Ich habe Frank Farian hier gesehen.«

»Den Frank Farian?« Meine Frau sah mich an, als hätte ich gerade behauptet, den Yeti im Vorraum der Volksbank von Hüls getroffen zu haben.

»Du meinst den mit den vielen Locken, der Boney M. erfunden hat?«

»Ganz genau. Und Milli Vanilli.«

»Milli wer?«

»Die, die nicht selber gesungen haben.«

»Ach, wie Du im Kirchenchor?«

Sie lehnte sich zurück, schob demonstrativ den Domteller zur Seite.

»Und was hat er hier gemacht, einen Friesenteller gegessen?«

»Er hat... telefoniert.«

»Telefoniert?«

»Ja. In einer gelben Zelle, direkt hier, wo jetzt Deine Weißweinschorle steht.«

»Und wo waren Boney M.?«

»Die gab's damals noch nicht. Das war... 1970. Oder 71. Vielleicht 69. So genau weiß das niemand mehr – außer vielleicht der Heimatverein.«

»Und? Was hat er gesagt?«

»Ich meine, er sprach über eine Kassette. Oder ein Tonbandgerät. Oder einen litauischen Toningenieur, der heimlich rückwärts aufnahm, um satanische Botschaften über Kartoffelsalat zu verbreiten. Ganz normales Showgeschäft eben.«

»Und diese Begegnung mit Frank Farian hat dich fürs Leben geprägt?«

Sie sah mich an, wie man jemanden ansieht, der behauptet, die himmlische Erleuchtung beim Eierkauf im Supermarkt erlebt zu haben.

»Natürlich! Ich war Messdiener. Frühmesse. Sonntag. Acht Uhr morgens. Ich roch nach Schweißfüßen, feuchtem Wollstoff und innerer Leere. Wer denkt in diesem Zustand schon an Musikgeschichte?«

»Und du hast ihn gleich erkannt?«

»Na klar! Ein Bild von ihm hing schon Tage vorher vor der Gaststätte Mendel. Groß, mit Mikrofon und bedeutungsschwerem Blick.«

»Und warum hat er ausgerechnet in Hüls telefoniert?«

»Weil es dort noch funktionierende Telefonzellen gab. Und weil… «

In diesem Moment beugte sich ein grauhaariger Herr vom Nebentisch zu uns rüber.

»Verzeihung. Ich will mich ja nich einmischen - ne. Aber da, wo jetz ihr Tisch steht – da war ein Parkplatz. Die Telefonzelle stand da, wo ich jerade mit mein Frau sitze.«

Ich nickte.

»Un sojar noch zwei Parkplätze mehr«, fügte er hinzu.

Ein Brummen ertönte von der anderen Seite:

»Falsch. Dat waren vier.«

Der Mann im hellblauen Lacoste-Polohemd mit aufgestelltem Kragen sprach mit der Autorität eines Mannes, der seit 30 Jahren im Ordnungsamt tätig war und deshalb jeden Parkplatz mit Vornamen kannte. „Un nebenan dat Vopatepatu, dat hieß früher Jaststätte Reitz. Ich muss dat wissen!“

Ich nahm einen großen Schluck Bier, dann versuchte ich es erneut.

»Also – es war Sonntagmorgen. Ich ging zur Kirche, zur Frühmesse…«

»Mit dem Dechant Ehl?« Die Hand auf meiner Schulter gehörte Gerd. Gerd, der ewige Messdiener. Er sah aus, als wäre er direkt aus der Sakristei gekommen.

»Ich war auch da. Damals. Messdiener. Ich erinnere mich an den Tag. Frank Farian hatte am Vorabend bei Mendel gespielt.«

»Wahnsinn! Du erinnerst dich auch?«

»Natürlich! Das war der Abend, als der Lautsprecher Feuer fing. Und dann kam Ricky Shayne!«

Jetzt war der grauhaarige Herr wieder dran. »Nee. Dat war an ‚nem anderen Tach. Den hab ich live jesehen! Bei Mendel. Un wat hat dä nochmal jesungen?«

Ich wollte gerade »Mammy Blue« sagen, da hob der Ordnungsamtler beschwörend den Zeigefinger. »Ich sprenge alle Ketten!« Dat war sein jrößter Hit. Ich muss dat wissen!«

Gerd schüttelte energisch den Kopf. »Falsch. Das war »Mammy Blue«. Ich hab die Single. Erste Auflage. Ohne Hülle.«

Ein Moment gespannter Stille. Meine Frau sah mich an, als wollte sie fragen, in was für einem Paralleluniversum sie da geheiratet hatte. Dann erhob sie ihre Stimme und mit der Sprachgewalt einer echten Musikkennerin verkündete sie: »Mammy Blue« war auch bei uns in Brasilien ein Hit und die Interpreten waren »die Pop-Tops« und die kamen aus Spanien.«

Plötzlich tauchte der Kellner auf, sichtbar irritiert: »Entschuldigen Sie bitte. Darf ich kurz stören? Ihr Tisch ist ab 20 Uhr für den Ricky-Shayne-Fanclub reserviert.«

Alle verstummten.

Dann sagte Gerd mit erschrockenen Augen: »Ist das heute? Ich hab mein T-Shirt zum Glück im Auto!«

Meine Frau nahm einen letzten Bissen vom Domteller, dann sah sie mich an.

»Und Dein Frank Farian? Was war jetzt mit dem?«

Ich seufzte. Dann brachte ich die Geschichte zum Ende.

»Nachdem er an diesem Sonntagmorgen kurz telefoniert hatte, ging er an der Hülser Kirche vorbei. Kein Blick nach links oder rechts, nur kurz ein Schulterzucken. Als dann die Hülser Glocken zur Frühmesse läuteten – da soll es passiert sein: Er blieb stehen, sah kurz zum Himmel (der Himmel sah zurück), und Frank Farian murmelte, ganz leise und auf Englisch den Psalm 137, Vers 1.

Meine Frau – sehr katholisch und sehr überrascht »Und wie geht der?«

»By the rivers of Babylon… there we sat down…«

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