Wolfgang Jachtmann Satiren

Über viele Jahre hinweg war ich Gelegenheitsberater. Das sind Menschen, die aufgrund ihres Berufes zu jeder Gelegenheit, unabhängig von Ort und Zeit und dem, was sie gerade tun, von irgendwem auf ein Problem hin angesprochen werden. 

So wirst du zum Beispiel zum Gelegenheitsberater in dem Moment, in dem du deinem herumtobenden Vierjährigen gerade ein Eishörnchen kaufen willst oder mit vier vollen Einkaufstüten im Regen über den Aldi-Parkplatz stolperst.

Man könnte meinen, Gelegenheitsberatung sei ein Ehrenamt, denn für die meisten Fragensteller ist es normal, dass sie den Ratschlag kostenlos bekommen. Dabei musst du sogar vorsichtig sein. So kenne ich einen Scheidungsanwalt, der seinem Tankwart auf dessen Frage nach den Vorteilen eines Ehevertrages einen viertelstündigen Vortrag gehalten hatte – frei Haus versteht sich – und anschließend Ärger bekam, weil er vergessen hatte, sein Tütchen Gummibärchen zu bezahlen.

In meinem Fall begann die Beratung meistens mit dem Satz: »Ich bin zwar nicht Ihr Patient, aber ich sehe, dass Sie gerade Zeit für mich haben, und hätte bei der Gelegenheit

mal eine medizinische Frage.« So erinnere ich mich daran, dass ich mir einmal unter den sorgenvollen Blicken einer Kommuniongesellschaft Baby-Kevins Bauchnabelbruch ansehen sollte. Ein andermal unterzog ich Tante Klärchens Halsschmerzen einer fachmännischen Betrachtung, indem ich ihr unter dem Jubel der Festgemeinde einen Suppenlöffel von ihrer Goldhochzeitstafel in den Rachen schob. Ich denke auch gerne an den rheinisch-freundlichen Herrn zurück, der mich als Notarzt mitten in einer Reanimation auf offener Straße ansprach. »Wo ich Se jerade sehe - machen Sie erstmal in Ruhe fertisch. Aber wenn Sie die Oma nich mehr auf die Reihe kriejen, hauen Sie mir nich jleich mit dem Rettungswajen ab. Ich brauch‘ da mal ‚ne Auskunft von wejen meinem Impfpass.«

Um mich herum wurde es erst ruhiger, als ich von der Allgemeinmedizin zur Psychotherapie wechselte. Seither mied man meinen Ratschlag wie der Teufel das Weihwasser. Einen Bandscheibenschaden darf halt jeder haben, einen offiziell

bestätigten Dachschaden keiner.

Mein Nachbar zur Rechten ist ebenfalls ein vielbeschäftigter Gelegenheitsberater, denn als Computerfachmann ist er ein gern gesehener Talk-Gast auf Hochzeiten und Beerdigungen. Mein Nachbar zu Linken hingegen fristet als Konstrukteur von Hochgeschwindigkeitszügen ein von der Öffentlichkeit wenig beachtetes Schattendasein. Einen kaputten PC hat eben jeder zuhause, einen kaputten ICE hingegen niemand. 

Je länger eine Party dauert, desto unübersichtlicher wird die Situation. Während ihre Ehefrauen herrenlos durch das Gelände streunen, untersuchen Hautärzte auf Gästetoiletten seltsame braune Flecken, Installateure sind mit dem Hausherrn bei der Heizungsanlage und Elektriker beurteilen auf dem Nachbargrundstück die Möglichkeiten für eine neue Gartenbeleuchtung. 

Um derweil die vernachlässigten Gattinnen zu beschäftigen, empfiehlt es sich, zu ihrer Beschäftigung die ein oder andere Kindergärtnerin oder Sozialpädagogin zum Gelegenheits-Small-Talk einzuladen. Auf der Heimfahrt werden die Ehefrauen ihren Männern stolz berichten, dass sie viel Zeit, Kosten und Mühe gespart hätten, weil sie zwischen Mettbrötchen, Käseschnittchen und Russeneiern den entwicklungspsychologischen Hintergrund von Klein-Lenas Nasebohren geklärt hätten. 

Bleibt der Tipp an kontaktscheue Jugendliche. »Werdet Handwerker, Hundetrainer oder Inhaber einer Modelagentur und ihr habt im Handumdrehen eine gewaltige Schar von 

Gelegenheitsfreunden. Wollt Ihr Euer Bier hingegen in aufrichtiger, jedoch überschaubarer Gesellschaft trinken, dann versucht Euer Glück vielleicht als Steuerfahnder, Gerichtsvollzieher oder - zur Not - als Facharzt für

Enddarmerkrankungen.«