11. Rheinisches Tabletten-Memory
Man weiß ja nie, ob man die Pillen nicht nochmal gebrauchen kann

Bei vielen akuten Erkrankungen, etwa einer Erkältung oder Magen-Darm-Grippe, genügen mir mitunter ein bis zwei Tabletten, damit es mir wieder besser geht. Deshalb hätte ich es in der Apotheke lieber wie damals in der guten alten Zeit – ohne Blisterpackungen und stattdessen aus großen Apothekengefäßen aus mundgeblasenem Braunglas.

»Guten Morgen, Herr Pharmazierat. Ich hätte gerne drei Kopfschmerzpillen zu fünf Cent das Stück, für zehn Cent Lutschpastillen gegen Halsweh, zwei Himbeerbrausetabs für zum Abhusten und noch ein Tütchen Bullrichsalz gegen das Sodbrennen wegen der Kopfschmerzpillen - bitte!«

Die Pharmaindustrie weiß jedoch besser, was gut für einen ist. Von daher muss man von jeder Sorte mindestens zehn Tabletten kaufen. Für die Reste, die man nicht nimmt, weil man glaubt, sie nicht mehr zu brauchen, gibt es dann in fast allen Haushalten eine pharmakologische »Area-Fifty-One«. Das ist ein Ort, von dem niemand genau weiß, was dort vor sich geht – genauer gesagt, welche chemischen Reaktionen sich in den nächsten Jahren dort abspielen. Meistens ist das der Alibert-Schrank im Bad oder eine Schublade, vorzugsweise im Nachttisch.

Irgendwann erkennt man dann die heimische Pillendeponie an dem exotischen Farbenspiel auf den zerfledderten Packungen, ihrer im Dunkeln leuchtenden Dunstglocke und den toten Insekten in ihrer Umgebung. Deshalb wäre eigentlich ein unterirdischer Salzstock als Endlagerstätte ratsam. Aber erstens hat den nicht jeder unter seinem Grundstück und zweitens kann man das Zeug vielleicht noch einmal brauchen - es war ja schließlich teuer.

Zu meiner Kinderzeit im streng katholischen Rheinland war es üblich, dass sich die gesamte Familie zur Weihnachtszeit im Haus der Großeltern versammelte. Dabei konnte es vorkommen, dass diese, zur Nächstenliebe und Sparsamkeit verpflichteten Christen »Tabletten-Memory« spielten. Das war ein fröhliches Entsorgungsspiel, zu dem jeder Teil der Familie seine therapeutischen Restbestände beitrug. Während der lebhaften Diskussion über den Verbleib der Pillen in den Haushalten wurden bei den älteren Familienmitgliedern meist angenehme Erinnerungen wach und gelegentlich floss sogar die eine oder andere Träne der Rührung.

In der Regel machte Onkel Ewald den Anfang, denn er war der neugierigste unter den Verwandten. »Oooh, guck mal da! Sind dat nich Uroma Mias Herzpillen? Die Uroma is doch schon seit zwanzich Jahren tot. Kann die noch einer jebrauchen, die haben ihr nämlich jut jetan?«

Daraufhin witterte Tante Wiltrud ihre Chance auf ein kostenloses Schnäppchen. »Lass mal sehen. Ich jlaub, ich hab so wat Ähnliches mit dem Herz wie die Uroma. Ich nehm die mit un guck nach, ob die so aussehen wie die, die ich immer brauch. - Kann ja nich schaden!« 

Der beschwichtigende Zusatz »Kann ja nich schaden« begleitet mich als Rheinländer schon seit meiner Kindheit genauso selbstverständlich wie Karneval und Kölsch. Selbst zum Tode Verurteilte sollen hier früher gesagt haben: »Hängt mich ruhich auf - kann ja nich schaden, oder?«

Als nächstes meldete sich Oma Ilse zu Wort. Dabei tippte sie mit dem Finger auf ein vergilbtes Päckchen »Fallum Sofort«. »Braucht einer von Euch wat zum Pennen, sonst schmeiß ich die hier nämlich weg.«

Umgehend signalisierte Großtante Trinchen Interesse. Sie litt unter chronischen Schlafstörungen, die sie auf den viel zu frühen Tod ihres Katers Morle zurückführte. »Ja ich. Aber die Blauen, die Du da hass, die kenn ich. Die helfen jar nix. Kannst Du wegtun. Ewald -  guck lieber mal nach, ob da noch welche von Denen sind, wo die Tante Lieschen immer nur eine halbe von jenommen hat. Danach war die immer so schön still.«

Onkel Ewald war nicht nur neugierig, sondern für gewöhnlich auch sehr hilfsbereit. Deshalb wühlte er sich durch den Blisterberg. »Nee – Trinchen. Ich find die nich mehr. Hass Du die nich schon vor zwei Jahren alle mitjenommen? Aber sach mir lieber - die dicken Roten da, sind die nich noch von Jroßonkel Justav? Die machen, jlaub ich, dat Blut dünn.« Dann wandte er sich an seine Ehefrau. »Sophie - wolltest du die nich letztes Jahr schon für den Schneiders Jupp vom Kirchenchor mitjenommen haben?«

Tante Sophie widersprach. »Nee, Ewald. Dat waren die kleinen Roten für jejen Herzrhythmus. Aber mir fällt da jerade wat ein. Lieber Jott - Ewald. Sind dat etwa Deine Tabletten für jejen Thrombose? Ich hab Dir doch jesacht, Du sollst die nich in die Schublade mit den alten Pillen tun. Hass Du wohl total verjessen einzunehmen. Jetz is dat ja ejal, aber nach Silvester jehst Du mal eben beim Doktor vorbei und frags, ob dat schlimm ist, dat Du die die janze Weihnachtszeit über verjessen hass!« 

Endlich kam Großvater Robert zu Wort. »Sach mal Ewald. Is da wat für jejen Kreuzschmerzen dabei. Du muss aber aufpassen. Letztes Jahr hass Du mir aus Versehen die Pillen für zum mehr Pippi machen jejeben. Da kam ich dä janze zweite Weinachtstach nich mehr von dat Klo runter.«

Onkel Ewald blieb gelassen. »Versuch mal die Jelben hier. Wenn die nich helfen, dann is dat dat Zeuch, wat dä Uropa Tünnes immer jejen seinen Spuckhusten jenommen hat.«

Tante Wiltrud wusste es besser. »Ewald – wat erzählst Du denn da? Die Jelben, dat is doch »Ocasa Brutal«. Die hat dä Uropa immer für dat Nümmerken mit die Lisbeth von dä Rheinstraße jebraucht, wenn Uroma Mia mal wieder Mijräne hatte.«

Großtante Trinchen sah Tante Wiltrud mit vorwurfsvollen Augen an. »Dat war nich »Ocasa Brutal«, wat dä jebraucht

hat. Dat war »Yohimbim« - un die waren weiß. Ich weiß noch, wie die Uroma Mia dem Tünnes die Pillen wegjenommen hat. Da musste die Lisbeth von dä Rheinstraße mit dem Müller Hennes weitermachen. Dä war aber auch viel jünger als dä Uropa un untenherum auch prächtiger ausgestattet.«

Tante Wiltrud wurde misstrauich. »Woher weißt Du denn, dat dä Müller Hennes untenherum prächtich ausgestattet war?«

An diesem Punkt beendete Oma Ilse die Diskussion. »Jetz is aber Schluss damit! Et is Weihnachten un da jehört sich sowat nich. War et dat jetz? Kann der Rest weg oder soll ich

den für nächstes Jahr Weihnachten noch mal aufheben?« 

Dieser Dialog zeigt: Wir Rheinländer sind zwar eine sparsame und widerstandsfähige Laune der Natur – doch nach den Weihnachtstagen suchen wir mitunter wegen seltsamer Symptome unsere Hausärzte auf. Daher mein Appell an die Pharmakologen unter meinen Lesern: Bitte denken Sie doch einmal über einen geeigneten Selbstzerstörungsmechanismus für überflüssige

Tabletten nach. 

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